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Einleitung

     
„Wir haben ... von den Hemmungsmechanismen gehört, die bei verschiedenen sozialen Tieren die Aggression zügeln und ein Beschädigen und Töten von Artgenossen verhindern. Wie gesagt, sind diese natürlicherweise bei solchen Tieren am wichtigsten und daher auch am höchsten ausgebildet, die imstande sind, ungefähr gleichgroße Lebewesen ohne weiteres umzubringen. ... Eine Taube, ein Hase und selbst ein Schimpanse sind nicht imstande, durch einen einzigen Schlag oder Biß ihresgleichen zu töten. ... In freier Wildbahn besteht also für gewöhnlich gar nicht die Möglichkeit, daß ein solches Tier ein gleichartiges wesentlich beschädigt. So ist auch kein Selektionsdruck wirksam, der Tötungshemmungen herauszüchtet. Daß solche tatsächlich nicht vorhanden sind, merkt der Tierhalter zu seinem und seiner Pfleglinge Schaden, wenn er die innerartlichem Kämpfe völlig „harmloser“ Tiere nicht ernst nimmt. Unter den unnatürlichen Bedingungen der Gefangenschaft, in der ein Besiegter dem Sieger nicht in schneller Flucht entkommen kann, kommt es immer wieder vor, daß dieser ihn in mühevoller Kleinarbeit langsam und grausam umbringt.“ (Konrad Lorenz [119], S. 337 – 338)
 
Der Einleitung ist das Zitat des Nobelpreisträgers und großen Verhaltensforschers1 Konrad Lorenz vorangestellt. Dieses Zitat erklärt den Titel des Buches „Auch Affen sind nur Menschen“. Konrad Lorenz sah es als verderblich an, wenn ein Artgenosse den anderen Artgenossen tötet. Dies war für ihn unnatürliches Verhalten. Durch die Erfindung der Waffen wäre bei uns Menschen das bisher vorhandene Gleichgewicht zwischen Tötungsfähigkeit und instinktmäßiger Tötungshemmung gestört. Wie wir noch sehen werden, irrte Konrad Lorenz. Für alle Lebewesen ist der Artgenosse der Hauptkonkurrent, denn er nutzt genau die Lebensräume und die Nahrungsmittel im weiteren Sinne, die man als Einzellebewesen selber dringend benötigt. Insofern ist es eher verwunderlich und bedarf der Erklärung, wenn ein Artgenosse den anderen Artgenossen unterstützt. Solches Verhalten ist häufig bei Affen und Menschen zu finden.
Zurück zum Zitat; die hinter der Meinung von Lorenz stehende Geisteshaltung fiel bei der kaum noch mit der Natur konfrontierten Konsumgesellschaft auf fruchtbaren Boden. In der Natur liefe alles „gut“ und „friedlich“ ab unter Artgenossen. Nur in der Gefangenschaft könnte es passieren, dass Artgenossen einander töten. Gefangenschaft wäre demnach allein schon verderblich. Man möge sich über die eine oder andere Haltungsform streiten, wenn es aber zu Todesfolgen komme, dann habe der Tierhalter etwas schrecklich falsch gemacht. Diese leicht anzunehmende Meinung führte dann freilich auch zu unbewußter Zensur und zum Verschweigen. Über Todesfälle von Tieren in Menschenobhut wurde kaum noch berichtet, Todesfälle durch innerartliche Aggression wurden als Unfälle getarnt oder verschwiegen. Auch der Diskussion über artgerechte Haltung hat Konrad Lorenz einen falschen Weg gewiesen.


Abbildung 1.1: Konrad Lorenz, Wien


Ich hatte über mehr als fünfundzwanzig Jahre die Chance, das Leben und Sterben in einer Primatenstation begleitend beobachten zu dürfen. Über die dabei gewonnenen Erkenntnisse soll hier ausführlich berichtet werden. Wesentlicher Gesamteindruck war über die Jahre, dass die Affen nicht besser (aber auch nicht schlechter) als die Menschen sind. Somit drängte sich der Titel „Auch Affen sind nur Menschen“ geradezu als Arbeitstitel auf. Ich wurde einmal in einer Talkshow gefragt, ob das hieße, auch Affen wären böse. Dies habe ich ausdrücklich verneint. Das Ausleben des arteigenen Verhaltens kann nur dann als böse bezeichnet werden, wenn es Gesetze gibt, die das Verhalten verbieten. Man mag unsere Ergebnisse als Gefangenschaftsbeiprodukte abtun. Es bleiben immerhin vergleichende Beobachtungen unter restriktiven - aber konstanten - Bedingungen in Menschenobhut, unter denen diese oder jene bemerkenswerten Unterschiede zwischen verschiedenen Arten erst aufzeigbar sind. Unterschiedliche ökologische Bedingungen, die für Unterschiede im Verhalten verantwortlich gemacht werden mögen, entfallen als Parameter des zu beobachtenden unterschiedlichen Verhaltens. Besonders wichtig erscheinen aber auch die von Art zu Art mehr oder weniger deutlichen individuellen Unterschiede der beobachteten Tiere. Insofern berichte ich auch über bestimmte nichtmenschliche Persönlichkeiten, die meine Freundinnen und Freunde gewesen sind. Um - wie bereits oben - erneut Missverständnissen vorzubeugen, sei noch betont, der Titel ist nicht im Sinne der zoologischen Systematik gemeint, Affen sind keine Menschen.
Die Affen, Simiae, sind eine Unterordnung der Ordnung Herrentiere, der Primates, neben den Affen gehören zu dieser Ordnung die Halbaffen, Prosimiae. Prosimiae und Simiae repräsentieren unterschiedliche Evolutionsniveaus. Halbaffen sind ursprünglicher als Affen, die auch Echte Affen genannt werden. Innerhalb der Halbaffen können wir Tiere mit einer feuchten Verbindung zwischen Nase und Oberlippe und die Koboldmakis (Genus Tarsius), denen – wie bei den simischen Primaten – diese Verbindung, das Rhinarium, fehlt, unterscheiden. In der zoologischen Systematik wird daher in der Ordo Primates auch zwischen den Subordines Strepsirrhini (mit Rhinarium) und Haplorrhini (ohne Rhinarium) differenziert. Ein weiteres Merkmal, nach dem man strepsirrhine und haplorrhine Primaten unterscheiden kann, ist das Vorhandensein oder das Fehlen des Tapetum lucidum. Das Tapetum lucidum ist eine reflektierende Schicht im Augenhintergrund, die wohl beim Dämmerungssehen die Lichtausbeute erhöht. Sowohl tagaktive als auch nachtaktive strepsirrhine Primaten besitzen ein Tapetum lucidum, das haplorrhinen Primaten fehlt. Leider sind beide Merkmale bei fossilen Primaten nicht mehr nachweisbar, was die systematische Einordnung fossiler Primaten erschwert. Für beide Unterordnungen der Primates gibt es keine einleuchtenden deutschen Namen.2 Doch kann man sich leicht merken, Strepsirrhini sind Prosimiae ohne Tarsius (Strepsirrhini = Prosimiae - Tarsius) und Haplorrhini sind Simiae und Tarsius (Haplorrhini = Simiae + Tarsius).



Abbildung 1.2: Das Buschbaby Galago senegalensis ist ein typischer Halbaffe (Prosimiae), gleichzeitig ein Vertreter der strepsirrhinen Primaten.




Abbildung 1.3: Sein Rhinarium, die feuchte Verbindung zwischen Nase und Oberlippe, kennzeichnet alle strepsirrhinen Primaten.




Abbildung 1.4: Auch der Koboldmaki Tarsius bancanus ist ein Halbaffe (Prosimiae), gleichzeitig aber ein Vertreter der haplorrhinen Primaten.




Abbildung 1.5: Seine Nasen-/Mundregion erinnert uns an die Verhältnisse, die wir bei den Echten Affen (Simiae) vorfinden.




Abbildung 1.6: Auch der Riesengalago Galago garnettii ist ein strepsirrhiner Halbaffe.




Abbildung 1.7: Sein Tapetum lucidum reflektiert das Licht, diese Schicht fehlt den haplorrhinen Primaten.


In der Regel werden lateinische Gattungssnamen und Artnamen kursiv geschrieben. Wir Menschen, die auch Vertreter der Echten Affen sind, gehören der Gattung Homo3 und der Art Homo sapiens an. Ist man der Meinung, dass der Neanderthaler auch zu den Menschen gehört, würde der Unterart Homo sapiens neanderthaliensis unsere Unterart Homo sapiens sapiens, der doppeltweise Mensch sozusagen, gegenübergestellt. Da man innerhalb der Menschen zwischen den fossilen und den heutigen Menschen unterscheidet, heißen jene korrekt Homo sapiens sapiens fossilis und diese Homo sapiens sapiens recens. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass eigentlich die Bezeichnung eines Mitmenschen als Affe (besser Echter Affe) oder als Homo nicht als Beleidigung angesehen werden kann.
Es ist ein Ziel dieses Buches auf die Mannigfaltigkeit der Primaten hinzuweisen und der falschen Annahme entgegenzutreten, Affe sei gleich Affe. Dazu muss man auch verstehen, wie es zur Mannigfaltigkeit kommt. Daher ist den Berichten über meine Erfahrungen mit einzelnen Arten eine Übersicht über Evolution (Kapitel 2) vorangestellt. Ich möchte möglichst verständlich darstellen, wie man sich Evolution überhaupt vorstellen kann. Ich grenze Evolution von Schöpfung ab und werde belegen, dass stets mehr Nachkommen „produziert“ werden als rechnerisch benötigt werden, was zwangsläufig Selektion (Reduktion der Individuenzahl durch natürliche Auslese) bedingt. Ich berichte über Mimese und Mimikry und werde aufzeigen, dass es Signalfälschung überhaupt nicht gibt. Bei dem Nachdenken über ökologische Nischen wird auch einsichtig werden, wie das vermeintliche Problem „Juchtenkäfer“ (Kapitel 2) leicht erklärbar und eigentlich erwartbar wird. Schließlich werde ich nachvollziehbar machen, wie man sich Unterartenbildung und Artenbildung vorstellen kann. Dabei muss ich auch auf Ergebnisse und Erkenntnisse anderer Autoren zurückgreifen. Das folgende Kapitel wäre ohne deren Leistungen nicht denkbar. Daher sei diesen Anderen bereits in der Einleitung gedankt.

1Um Missverständnissen bereits in der Einleitung vorzubeugen, möchte ich betonen, dass die Bezeichnung „großer Verhaltensforscher“ keine Ironie sondern ernst gemeint ist. Ohne die theoretischen Konzepte von Lorenz wäre die Verhaltensforschung ärmer.

2Bezeichnungen wie Trockennasenaffen (für die Haplorrhini) und Feuchtnasenaffen (für die Strepsirrhini) halte ich für missglückt.

3homo, hominis sind jeweils der Nominativ und der Genitiv für Mensch im Lateinischen

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