Brüllaffen sind - so erkannte Carpenter - ausgesprochen friedliche Tiere; offensichtlicher Streit kann nahezu nicht beobachtet werden. Nichtverstehen äußert sich im bloßen vorsichtigen Ausweichen. So kann ein Beobachter oft mehrere hundert Stunden mit ihnen verbringen, ohne offene Auseinandersetzungen zu sehen.
Die meisten Brüllaffen leben in großen Sozialgruppen; daneben findet man einzelne
Männchen, die entweder sehr alt oder gerade erwachsen sind, und offensichtlich
Anschluss an andere Gruppen suchen. In der Regel ist die Zahl der erwachsenen
Weibchen größer als diejenige der Männchen. Brüllaffengruppen haben feste
Wohngebiete, die sie aber nicht durch Kämpfe verteidigen, sie verteidigen nur den Ort,
an dem sie sich gerade befinden. Wohngebiete verschiedener Gruppen überschneiden
sich häufig. Jeden Morgen geben Brüllaffengruppen durch ihre lauten, weit zu
hörenden „Brüllgesänge“ ihren Nachbargruppen zu erkennen, wo sie sich gerade
aufhalten. Das Brüllen dient also vor allem dem Erhalt des Abstandes zwischen den
Gruppen. So wird die Einwanderung fremder Tiere auf friedlichem Wege vermieden.
Ihr lautes Rufen ist zudem noch häufig am Abend zu hören, auch brüllen sie bei
Gefahr.
Brüllaffen springen selten. Bei ihren Fortbewegungen sichern sie sich mit dem Schwanz und können so die meisten Entfernungen durch Klettern überwinden. Auch bei ihnen sind die Hände durch eine Spalte zwischen Zeigefinger und Mittelfinger zu gut funktionierenden Greifhänden geworden, die sichere Griffe zulassen. Insofern verwundert es nicht, dass sie nur selten am Boden angetroffen werden und den sicheren Aufenthalt in den hohen Baumkronen vorziehen, wo sie sich meist langsam fortbewegen. Bei Gefahr aber können Brüllaffengruppen sehr schnell weichen. Kennzeichnend für die Brüllaffen ist außerdem, dass sie bis zu 80% der Aktivitätszeit ruhen, womit sie wohl die inaktivsten unter den Affen sind.
Noch eine weitere Besonderheit ist bei ihnen zu finden: Sie zählen zu den
Nahrungsspezialisten, denn ihre Nahrung besteht vornehmlich aus Blättern.
Daneben essen sie aber auch Früchte, vor allem reife Früchte.“([281], Seiten 143 -
144).
Als mögliche Predatoren gibt Carpenter Katzen, vor allem den Ozelot, an ([18]), diese
wären wohl für den Tod von Brüllaffen verantwortlich.
Nach meiner Einschätzung war der Bericht von Carpenter - unabhängig von seiner
hohen Bedeutung für die primatologische Forschung - in zwei Einschätzungen falsch.
Zum einen glaube ich nicht, dass Brüllaffen tatsächlich so lethargisch sind wie
angegeben, vielmehr beherrschen sie die Leistung, bei Störung durch einen
Beobachter das Verhalten „einzustellen“, wodurch sie inaktiv wirken, zum anderen
dürften Brüllaffen keineswegs die friedlichen Riesen sein, wie beschrieben.
Doch war Carpenters Bericht lange Jahre Richtschnur für die Wertung zu
beobachtenden Verhaltens, bzw. auch für mögliche Selbstzensur der diese Species
beobachtenden Wissenschaftler. Zu diesem Fragenkomplex führten wir aus:
„Brüllaffen sind jedoch nicht ausschließlich friedliche Tiere. Bereits Carpenter
hat darauf verwiesen, dass es zwischen erwachsenen und jungerwachsenen
Männchen Streitereien gegeben haben muss, wie die Narben beweisen, die man
oft in den Gesichtern vor allem der Männchen erblickt. Er vermutet, dass
die Auseinandersetzungen vielleicht nur nicht in Gegenwart des Beobachters
stattfinden, dass dieser sie sozusagen verhindert. Sicher werden die in der Gruppe
aufwachsenden Männchen bei Erreichen der Geschlechtsreife vertrieben, oder
sie gehen von sich aus auf Wanderschaft. Dementsprechend - so haben die
sorgfältigen Bevölkerungsanalysen ergeben - treten die meisten Todesfälle bei fünf-
bis siebenjährigen Männchen auf. Manchmal findet man auch einen toten
Brüllaffenmann, dessen Kopf Spuren eines vorangegangenen Kampfes zeigt. Im
Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen bei Wechseln der Männchen werden
zuweilen3
die empfindlichsten Mitglieder der Gesellschaft, die Kinder, verletzt oder auch getötet.
Insofern haben nun auch die Brüllaffen wieder „menschlichere“ Züge bekommen. Wie
in allen natürlichen Populationen sind die Todesraten bis zum Erreichen der
Geschlechtsreife hoch; so wissen wir heute - dank Barro Colorado -, dass nahezu 90%
der Männchen und 65% der Weibchen vor dem fünften Lebensjahr sterben.“([281],
Seite 148).
In unserem Beitrag berichten wir zudem über Unterschiede zwischen den
verschiedenen Arten. Die großen Mehr-Männchen-Gruppen des Mantelbrüllaffen sind
keineswegs typisch für diese Genus. ([281])
In Menschenobhut werden Brüllaffen nur selten erfolgreich gehalten, sie sterben sehr
schnell und gelten als äußerst empfindlich. Insofern war es niemals mein Ziel, Vertreter
dieses Genus in Kassel zu halten. Am 12.01.1988 erhielt ich einen Anruf vom Zoll in
Frankfurt, sie hätten einen Kapuzineraffen beschlagnahmt, ob wir diesen übernehmen
könnten. Unabhängig davon, dass wir einen weiteren Kapuzineraffen nicht benötigten,
zudem nicht wussten, um was für einen Kapuziner es sich handelte, sagte
ich zu, haben doch vom Gesetz geforderte Beschlagnahmungen geschützter
Tiere nur dann einen Sinn, wenn diese auch anschließend verwahrt werden
können.
Am 13.01.1988 wurde uns dann Billy gebracht, ein kleines blondes Affenmännchen
mit einem Hüftgurt, das sicherlich kein Kapuzineraffe war. Ich bestimmte
ihn mutig als schwarzen Brüllaffen Alouatta caraya und behielt recht, Billy
wuchs bei uns zu einem erwachsenen schwarzen Brüllaffenmann heran. Bis zum
14.03.1988 blieb Billy in der Quarantäne und verursachte fast (ohne seine Schuld)
den Tod unseres alten Kapuzinermannes Bubi, der in einem Nachbarkäfig
gehalten wurde, worüber ich im Kapuzineraffenkapitel (Kapitel 13) berichten
werde.
Zwangsläufig hatte ich aber ein Problem: Wie ernährt man einen Brüllaffen, ohne dass
er schnell stirbt? Eines war von vornherein klar, unsere Diäten für Kapuzineraffen sind
nicht hinreichend. Vielmehr benötigen wir für diesen Vertreter einer blattfressenden
Art zusätzliche Nahrungsangebote. Ich wusste bereits, dass Brüllaffen sehr gerne
Bananen essen, dass sie aber auch sehr schnell bei bananenreicher Kost sterben. In der
Primatenstation hatte ich es bis dahin abgelehnt, Salat zu verfüttern, da
nach meinem Wissen Salat sehr belastet ist. Nun musste Salat ein wichtiger
Bestandteil der Nahrung sein. Ich rief meine Freunde im Großmarkt an und bat um
Hilfe, ich benötigte unbedingt ungespritzten Salat. Mir wurde Hilfe zugesagt,
doch erhielt ich wenig später die Antwort, unbehandelten Salat gäbe es nicht,
Salat gelte als unbehandelt, wenn er soundsoviele Tage vor dem Verkauf nicht
behandelt worden sei. Insofern war unsere Salat-reiche Diät von vornherein
ein Kompromiss. Ich bot unserem Brüllaffen auch zahlreiche Pflanzen aus
unserem Garten an, mit besonderer Begeisterung verspeiste er Löwenzahn und
Magnolienblüten. Ein Ernährungswissenschaftler, dem ich dies erzählte, meinte,
Magnolienblüten seien Gift, doch hatte das Verdauungssystem unserer Brüllaffen kein
Problem mit dieser Nahrung, was die Spekulation erlaubt, dass hier in der
Evolutionsgeschichte Anpassungen erfolgten, die das Nutzen von Blüten als
Nahrungsquelle ermöglichen.
Glücklicherweise fand ich Artikel von Legrand Benton ([10]) und Alan H. Shoemaker
([201], [202]) über Haltung von Alouatta caraya im Columbia Zoo, die mir wichtige
Hinweise zum Versuch einer erfolgreichen Haltung gaben. Diese befolgte ich und Billy
überlebte die Quarantänezeit. Ab dem 14.03.1988 hielten wir den kleinen
Brüllaffenmann in einer Krallenaffeneinheit (Raum 2, Käfig 2) mit Gitterkontakt
zu Krallenaffen, hier fühlte er sich offensichtlich wohl und wuchs zu einem
ausgewachsenen Schwarzen Brüllaffenmann heran. Den Brei, den wir für ihn entwickelt
hatten, nahm er gerne aus unserer Hand an, zudem steckten wir ihm Springaffenbrei
zu. Abends gaben wir ihm zusätzlich zum Futter, über das ich am Ende des Kapitels
noch berichten werde, Pellets direkt in den Mund. Billy war uns also sehr
vertraut und kam immer sofort nach vorne an das Gitter, hörte er uns nur
kommen.
Getrübt war unsere offensichtlich erfolgreiche Haltung nur durch den Umstand, dass
wir für ihn kein Weibchen bekommen konnten. Meine Bemühungen waren erfolglos.
Die Einzelhaltung eines gesellig lebenden Primaten ist unbefriedigend und nicht
artgerecht.
Auch bei einer Brasilienreise 1988 konnte ich zwar weibliche Schwarze
Brüllaffen im Zoo von Rio da Janeiro sehen und mein Anliegen zahlreichen
Kollegen vortragen, doch blieben die Zusagen ohne Resultat. Allerdings war
es Cornelia Schäfer-Witt und mir möglich, im amazonischen Regenwald
Kapuzineraffen (Hämmerer des Waldes) zu beobachten und einen roten Brüllaffen zu
hören, konnten ihn aber trotz eines einheimischen Guides, mehrstündigen
Suchens und trotz seiner ausdauernden Brüllgesänge nicht zu Gesicht
bekommen.4
Auf uns wirkte Billy glücklich und lebensfroh, er fütterte gerne Krallenaffen im
Nachbarkäfig und war bei unseren regelmäßigen Besuchen eigentlich immer aktiv.
Dann wurde Billy jedoch plötzlich ohne erkennbare Ursache krank, er wirkte völlig
apathisch, meinen Mitarbeitern und mir war klar, dass er in diesem Zustand nur noch
wenige Tage zu leben hatte. Insofern erinnerte ich mich an ein mehr als zehn
Jahre zurückliegendes Gespräch mit Dieter Poley, der mir erzählt hatte, dass
Affen Gentamycin gut vertragen, und beschloss, Billy auf jeden Fall noch zu
behandeln. Einfangen konnte ich Billy nicht, unser kleines Affennetz war für
den riesigen Brüllaffenmann zu klein, für das große Netz war der Käfig zu
klein. Zudem hatte ich Sorge, er könne das Vertrauen, das er offensichtlich
in mich setzte, verlieren, sollte ich ihn gewaltsam einfangen. Ich unterhielt
mich daher lange mit ihm und schilderte ihm ausführlich mein Problem. Ich
stellte einen unserer Quetschkäfige zu ihm in das Gehege und erklärte ihm
durch Zeichen, was ich möchte, er solle sich in den Quetschkäfig begeben, der
eigentlich für einen 10 kg schweren Brüllaffenmann zu klein war. Der große
Brüllaffenmann verstand offensichtlich mein Anliegen und kletterte mühselig nach
unten und quetschte sich in den Käfig. Nur mit Mühe gelang es, auch den Schwanz
noch unterzubringen, er musste sich drehen, damit dieser noch Platz fand.
Anschließend nahm ich den Quetschkäfig samt Billy aus dem Gehege, wog ihn und
gab ihm mit schlechtem Gewissen seine Spritze. Anschließend ließ ich ihn
wieder in seinem Gehege frei, unsicher, was ich möglicherweise angerichtet
hatte.
Am darauf folgenden Morgen war Billy wieder gesund, wie immer kam er sofort an
das Gitter geeilt, um uns zu begrüßen. Das Mittel hatte gewirkt, doch musste
ich ihn nach Vorschrift wieder spritzen. (Nach meiner Erinnerung war eine
viermalige Applikation vorgeschrieben.) Doch hatte Billy offensichtlich den
Zusammenhang zwischen Quetschkäfig, Spritze und Genesung verstanden. Ich
brauchte nur den Quetschkäfig vor die geöffnete Käfigtür stellen, sofort kam
Billy herunter und betrat den kleinen Käfig, auch an den folgenden Tagen.
Am Rande sei bemerkt, das Aufsuchen des Quetschkäfigs konnte ich auch
in einem größeren Gehege (s. u.) jederzeit demonstrieren. Billy kooperierte
verlässlich.
In dieser Haltungseinheit blieb Billy mehr als drei Jahre, insofern hatten wir belegt,
dass auch in der Kasseler Primatenstation Brüllaffen hinreichend gehalten werden
können. Dann machte ich den ersten großen Fehler. Unsere Primatenstation war auch
offen für Studenten, die dort Semesterarbeiten oder Examensarbeiten schrieben.
Diese sahen auch Billy und kritisierten unsere Haltungsbedingungen (ein so
großer Affe in einem so kleinen Käfig). Entsprechende Kritiken werden vielen
Tierhaltern geläufig sein. Die Kritik war eigentlich unberechtigt. Die in Kapitel 8
ausführlich vorgestellten Käfige waren mit 70 cm x 180 cm x 240 cm etwa
zweieinhalbmal so tief und dreimal so hoch wie diejenigen, in denen nach der Literatur
([127]) Brüllaffen gehalten wurden, als mehr als siebenmal größer als anderswo
als hinreichend beschriebene Haltungseinheiten. Freilich wirkte der Käfig
durch die drei waagerecht aufgehängten beweglichen Leitern beengt, Billy
musste sich also teilweise „durchschlängeln“, um die Vorderfront zu ereichen.
Im Nachhinein hatten wir ihm einen für Brüllaffen optimalen Haltungskäfig
angeboten. Als „unnormal“ beobachtete ich nur scheinbar unnötige greifende
Handbewegungen, bevor er nach vorne kletterte. Bei Beobachtungen an Alouatta
fusca5
im brasilianischen atlantischen Regenwald lernte ich dann, dass das, was ich als
möglichweises Deprivationssyndrom angesehen hatte, offensichtlich angeborenes
sinnvolles Verhalten war. Durch diese Greifbewegungen greifen Brüllaffen sozusagen
sammelnd dünne Zweige, um einen sicheren Halt im Astwerk zu bekommen. Jedenfalls
erkannte ich die Qualität unserer Haltung nicht hinreichend und überführte Billy am
24.05.1991 in einen unserer 200 cm x 300 cm x 240 cm großen Haltungseinheiten, die
sich bei Makaken und Kapuzineraffen bewährt hatten. Ringsherum waren mehrere
breite Ruhebretter angebracht, für Billy installierten wir noch eine breite frei
hängende Leiter. Dem Platzbedürfnis meiner Studenten war Genüge getan, Billy
hingegen war nicht mehr glücklich, er fühlte sich wohl eher bestraft. Aus
Brüllaffensicht hatten wir ihn aus einem Käfig genommen, in dem er jeden Platz
mühelos erreichen und den er zu 100% ausnutzen konnte, und ihn in einen
Käfig gesetzt, der nur sehr eingeschränkt und unter Mühen zu erkunden war.
Der einzige Vorteil für mich war, dass ich ihn hier auch im Käfig besuchen
konnte. Sobald ich diesen betrat, kam Billy sofort angeeilt, um mich zu füttern.
(Um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich habe das Futter zwar genommen
und Essbewegungen durchgeführt, aber sein Geschenk nicht verzehrt.) Wir
bauten dann noch in den Käfig einen kleineren provisorischen ein, in dem
wir Springaffen hielten, Billy beachtete leider die neuen Kumpane kaum.
Im Herbst 1991 ging dann mein lang gehegter Wunsch nach einer Partnerin
für Billy in Erfüllung. Der Twycross Zoo bot uns Yellow Lady als
Leihgabe an, eine sehr alte wohl schwangere Brüllaffendame, die zu diesem
Zeitpunkt in Kilverstone lebte. Begeistert sagte ich sofort zu, sie zu
übernehmen.6
Am 08.10.1991 holten wir dann Yellow Lady am Flughafen ab und brachten sie
nach Kassel. Am 09.10.1991 erfolgte die amtstierärztliche Untersuchung. Nun
machte ich den zweiten Fehler bei der Haltung von Brüllaffen. Geleitet von der
praktischen Erfahrung, dass sich Artgenossen unterschiedlichen Geschlechtes
vertragen und mehr oder weniger problemlos vergesellschaftet werden können, und
befangen in der Vorstellung, nicht nur für uns, auch für Billy wäre ein weiblicher
Brüllaffe das Ziel aller Träume, ging ich in den Käfig von Yellow Lady mit einer
Transportkiste, die Rainer Lorenz zum Wiegen von Springaffen genutzt hatte, und
bat sie, diese zu betreten. Auch Yellow Lady verstand mein Anliegen und so
konnte ich sie wiegen (6600 g) und ohne stressreiche Einfangprozedur zu Billy
bringen.7
Billy war keineswegs begeistert von der quirligen Dame und wich vor Yellow Lady
zurück. Wir hofften aber, sie würden sich vertragen, ein Kampf fand nicht
statt.
Bereits am 24.10.1991 fanden wir Yellow Lady mit einem neugeborenen Kind vor, das
sie vorbildlich in der Schenkelbeuge trug. Der erste in Deutschland geborene Schwarze
Brüllaffe hatte die Geburt in Kassel überstanden! Billy war nicht begeistert von dieser
Situation und hielt sich am Boden auf, wo wir ihn vorher niemals angetroffen
hatten.
Leider war aber unser Glück nur von kurzer Dauer, am nächsten Morgen mussten wir
das schwerverletzte Kind (Biss in das Gesicht) aus der Gruppe entfernen, es starb noch
am gleichen Tag. Sein Gewicht war 250 g. Ob nun Yellow Lady oder Billy
der „Täter“ gewesen ist, wissen wir nicht. Die Umstände sprechen dafür,
dass wohl ein Kampf zwischen ihm und Yellow Lady stattgefunden haben
dürfte. Am 13.11.1991 starb dann Yellow Lady, Billy ging es besser. Doch im
Dezember wirkte er wieder apathisch und ich erwog, ihn wieder zu behandeln und
diskutierte dies mit unserem Amtsveterinär Dr. Rietze. Dieser meinte, ich
sollte den armen Kerl nicht mehrfach quälen und schlug mir zur Behandlung
ein Depotantibiotikum vor. Hier machte ich nun den dritten Fehler in der
Brüllaffenhaltung, ich folgte seinem Rat und schädigte wahrscheinlich so Billy
irreparabel. Wenige Tage später (am 18.12.1991) war die Brüllaffenhaltung in Kassel
beendet.8
Ein Jahr später bekam ich die Chance, drei in Twycross geborene Schwarze Brüllaffen
zu erwerben. Gerne nahm ich diese Chance wahr und kaufte diese Tiere. Ali,
geb. 27.03.1989, Fanny, geb. 04.12.1989, und Sophie, geb. 24.11.1990, wurden
von uns am 18.11.1992 importiert. Fanny und Sophie waren Schwestern, Ali
in einer anderen Gruppe geboren. In der Quarantäne hielten wir sie daher
getrennt.
Gleichzeitig bereiteten wir einen nach unserer Einschätzung geeigneten Haltungskäfig
vor. Ein Gehege mit den Ausmaßen des schon von Billy zuletzt genutzten Geheges
(200 cm x 300 cm x 240 cm) unterteilten wir durch eine festeingebaute Gitterwand.
Zudem ließ ich in beiden Teilen mehrere dicke Rundhölzer anbringen, die es auch
nichtspringenden Affen ermöglichten, jeden Teil des Geheges jederzeit zu nutzen.
Dieser Umbau hatte den Nachteil, dass das Leben im Käfig nur sehr schlecht von unser
Beobachtungsbank aus zu protokollieren und dass das Gehege nur sehr schwer
von meinen Mitarbeiterinnen zu reinigen war. Ihnen lag aber auch sehr viel
an dem Wohlergehen der Tiere, und sie akzeptierten diese Baumaßnahmen,
obwohl von ihnen nun akrobatische Leistungen bei der Reinigung gefordert
waren.
Die Möglichkeit der Abtrennung erwies sich als Segen, da uns anfänglich am
14.03.1993 die Vergesellschaftung aller drei Tiere nicht gelang, Fanny war zu
aufdringlich zu Ali, er floh auf den Boden, so dass sie noch am selben Tag abgetrennt
werden musste. Erst als Ali und Sophie regelmäßig in engem Körperkontakt
zusammensaßen, versuchten wir wieder (am 31.04.1993) die gemeinsame Haltung, diese
gelang, nachdem Fannys Attacken durch mehrmaliges Beißen seitens Ali gehemmt
werden konnten.
Die drei Brüllaffen akzeptierten auch unser Futterangebot und wurden uns vertraut,
auch ihnen konnten wir jederzeit Nahrung direkt in den Mund stecken. Meine
Beobachtungen an Alouatta caraya endeten 1997, nach insgesamt neun Jahren
Haltungserfahrungen, in dieser Zeit habe ich niemals gegen mich gerichtetes
agonistisches Verhalten erfahren, wie es gegenüber Pflegern berichtet wird ([201],
[202]). Für mich waren ihre morgendlichen Brüllgesänge und die Kontakte mit ihnen
eine große tägliche Bereicherung.
Am 11.01.1994 wurde dann Susanne geboren, eine Tochter von Sophie, die bei der
Geburt erst drei Jahre und zwei Monate alt war. Auch bei den Brüllaffen
protokollierten wir täglich das Trageverhalten. Susanne wurde anfänglich ausschließlich
von ihrer Mutter am Bauch, später dann nach unseren Protokollen ausschließlich von
ihrer Tante auf dem Rücken getragen.
Insofern war es ein glücklicher Umstand, dass in dieser Zeit
Pia Steinweg ihre Staatsexamensarbeit über unsere Brüllaffen
schrieb.9
So kann ich hier detailliert berichten. „Für die Beobachtungen setzte
ich10
mich circa einen halben Meter vor die Käfigmitte, so dass beide Käfighälften gleichzeitig
überschaubar waren. Die Beobachtung fand über einen Zeitraum von vier Monaten
statt und wurde in zwei Teile unterteilt. Der erste Abschnitt betraf die Zeit vom
25.02.11
bis 05.04.1994. Außer an den Wochenenden beobachtete
ich12
jeweils ab elf Uhr morgens entweder zwei oder drei halbe Stunden.
Der zweite Abschnitt fiel in den Zeitraum vom 03.05. bis zum
21.06.199413.
Hier wurde ab 13 Uhr jeweils eine Stunde lang beobachtet, jedoch nur noch einmal
pro Woche am selben Wochentag. ... Protokolliert wurden die Häufigkeit
des Transfers des Jungtieres von einem Gruppenmitglied zum anderen, die
Zeit (in Minuten), an denen das Junge sich bei anderen Tieren als der
Mutter aufhielt, die Zeit (in Minuten) in ventraler oder dorsaler Position
auf der Mutter oder der Tante und das Kontaktsitzen von Mutter und
Jungtier, bzw. Tante und Jungtier mit einem anderen Tier. Ferner vermerkte
ich14
die Entwicklung des Erkundungsverhaltens und der aktiven Fortbewegung
des Jungtieres, sowie dessen Nahrungsaufnahme. Außerdem wurden weitere
Sozialverhaltensformen der anderen Gruppenmitglieder gegenüber dem Jungtier und
auch allgemeines Sozialverhalten der Gruppenmitglieder untereinander wie
Kontaktsitzen, Kontaktaufnahme, soziale Körperpflege, Spiel, erfolgreiche
und erfolglose Aufforderung zur Kopulation aufgenommen.“ (Seiten 11 -
12)15
Pia Steinweg führt in ihrem Verhaltenskatalog u. a. aus: „Bei dem Spiel handelt es
sich um eine Aktivität, die meistens von einem Tier ausgeht. Es bewegt sich hierbei
rasch auf ein anderes zu und berührt dieses kurz, bzw. zieht an seinem Fell.
Daraufhin rennt der „Angreifer“ ein Stück davon und fixiert den anderen, der ihn
dann meistens verfolgt und seinerseits „angreift“, usw. Damit war meist eine
rege Lautäußerung verbunden. So ein Spiel kann weniger als eine Minute
dauern, meist währt es aber länger.“ (Seite 12) Das längste Spiel konnte
Steinweg zwischen Sophie und Ali beobachten, nämlich 15 Minuten lang (am
09.03.1994).
Bei dem spielerischem Beißen, das Steinweg besonders häufig zwischen Sophie und
ihrer Tochter Susanne beobachten konnte, „ergreift ein Sozialpartner eine Extremität
des anderen und beißt hinein. Diese Aktivität war meistens mit einer intensiven
Lautabgabe verbunden.“(Seite 12)
„Die ... als Kußfütterung bezeichnete Nahrungsübergabe von Mund zu Mund fand fast
ausschließlich zwischen Mutter und Jungtier statt, in Situationen, nachdem die
Mutter feste Nahrung zu sich genommen hatte. Durch die anschließenden
Kaubewegungen des Jungtieres schloß (Steinweg) auf eine Nahrungsübergabe.“ (Seite
12)
Körperkontakt war durchgängig am häufigsten zwischen Sophie und Ali zu
beobachten, wobei die Kontaktaufnahme von Sophie ausging. In der ersten
Beobachtungsphase saßen in den dreißig Minuten Ali und Sophie 3,1 ± 0,5 min
zusammen, in der zweiten Phase sogar 9,9 ± 3 min, vor allem ohne Kind. Der
zweithäufigste Kontakt war zwischen Sophie und Fanny zu beobachten, wobei in der
ersten Phase beide auffällig den Kontakt zur jeweils das Junge tragenden Schwester
suchten. In der zweiten Phase hingegen war ein Junge tragendes Weibchen für alle drei
erwachsenen Brüllaffen unattraktiv. Ein Junge tragender Sozialpartner wurde
gemieden.
Die soziale Körperpflege wurde vor allem von Sophie gezeigt, gegenüber der
Tochter (1,1 ± 0,3 mal), gegenüber Ali (1 ± 0,3 mal) und gegenüber Fanny
(0,7 ± 0,3 mal), Fanny zeigte dieses Verhalten seltener, aber immer noch
häufiger als Ali, der bei der sozialen Körperpflege stets der passivere Partner
war.
„Das Spielverhalten konnte (Steinweg) im Tagesmittel am häufigsten zwischen
(Sophie) und (Ali) protokollieren (1,6 ± 0,5 mal), etwas seltener zwischen (Sophie)
und (Fanny) (1,4 ± 0,3 mal) und viel seltener zwischen (Fanny) und (Ali) (0,5 ± 0,2
mal), ... Die Spielinitiative ging dabei meistens von (Sophie) aus. Oftmals ging dem
Spiel der Versuch voraus, einem anderen Tier die Nahrung abzunehmen, der für Sophie
meistens erfolgreich endete. Sie war es auch, die sich am meisten für einen Querbalken,
der sich am 21.03. gelöst hatte, interessierte. Sie untersuchte den herunterhängenden
Stamm an diesem und an den folgenden Tagen mehrmals, indem sie daran zog oder
ihn wieder in seine ursprüngliche Position hob. Beendete sie diese Aktivität,
wurde dasselbe von Ali wiederholt, jedoch mit weniger Ausdauer.“ (Seite
37)
„Eine etwas andere Art des Spielens fand im zweiten Beobachtungsabschnitt zwischen
den adulten Tieren und dem Jungtier statt. Dabei griff (Sophie), von der diese
Aktivität meistens initiiert wurde, mit beiden Händen nach dem Jungtier
und zerrte an ihm oder biß es leicht. Das Jungtier versuchte sich dann aus
diesem Griff zu befreien, womit stets eine intensive Lautabgabe seinerseits
verbunden war. Am häufigsten konnte (Steinweg) es auch im Zusammenhang
mit der Mutter protokollieren (0,9 ± 0,3 mal). Bei circa der Hälfte dieser
Kampfspielepisoden (0,4 ± 0,2 mal) konnte (Steinweg) beobachten, dass das Junge
leicht zurückbiss.
Ein ähnliches Verhalten zwischen Vater und Jungtier konnte (Steinweg) 0,5 ±
0,2 mal protokollieren, ebenso oft biss das Junge den Vater leicht.“ (Seite
40)
Pia Steinweg konnte auch erfolgreiche und erfolglose Aufforderungen zur
Kopulation beobachten, die immer von den Weibchen ausgingen. „Sie präsentierten
ihr Hinterteil, oft indem sie sich vor das Männchen legten. Häufig konnte
(Steinweg) beobachten, dass eine Fellpflege des Männchens vorausging. Damit
einhergehend stellte (Steinweg seitens von Fanny) immer ... rhythmische
Bewegungen der Zunge fest, die schnell ausgestreckt und wieder eingezogen
wurde.16
Einige Male fand auch ein Betasten der Genitalien Alis seitens Fanny nach
vorausgegangenem erfolglosen Präsentieren statt. ... erstmals konnte (Steinweg) es am
21.02. beobachten, wo sie mehrmals erfolglos präsentierte. Am folgenden Tag konnte
(Steinweg) wieder mehrmaliges Präsentieren protokollieren; dieses Mal folgten
langsame dorsoventrale Kopulationsbewegungen der beiden Tiere, die circa eine
Minute lang dauerten. Auch danach präsentierte (Fanny) noch mehrmals, wieder
erfolglos.“ (Seite 41). Entsprechendes Verhalten beobachtete Pia Steinweg auch
am 08.03., 05.04., 03.05. und 24.05. Doch blieben Fannys Bemühungen ohne
Reproduktionserfolg.
Besonders interessiert war ich an den Befunden zum Mutter-Kind-Verhalten
und zum Tantenverhalten, mich interessierte, ob Pia Steinweg unsere
routinemäßigen Befunde zum Trageverhalten (s. o.) bestätigen würde. Zu
Beginn ihrer Beobachtungen am 21.02.1994 wurde Susanne ausschließlich
von Sophie getragen. „Am 22.02. konnte (Steinweg) erstmals beobachten,
wie das Junge dorsal von seiner Tante getragen wurde. Schon vorher konnte
ich17
feststellen, dass die Tante über das Gesicht Kontakt zum Jungtier aufgenommen hatte,
indem sie sich seinem Gesicht mit dem ihren näherte und es dabei berührte.
Nachdem sie ihren Oberkörper zu ihm hingebeugt und ihren Hals präsentiert
hatte, übernahm sie das Junge und begann sofort rasch im Käfig hin- und
herzurennenen, wobei sie dicht von der Mutter verfolgt wurde, von der sie sich schnell
abwandte und davonlief. ... Nach circa einer Minute nahm die Mutter das Jungtier
wieder an sich. Die Tante beugte daraufhin noch mehrmals den Oberkörper
zum Jungen. Auch in den folgenden Tagen präsentierte sie ihm mehrfach den
Hals, jedoch ohne es zu übernehmen, da sich die Mutter dann über das Junge
beugte, davonlief oder die Tante abwehrte. Am 25.02.verweilte das Junge
bereits insgesamt fünf Minuten bei der Tante ... Am 28.02. verbrachte das
Jungtier bereits mehr Zeit bei der Tante als bei seiner Mutter ... In der Zeit, in
der das Junge von seiner Tante getragen wurde oder frei kletterte (s. u.),
nahm die Mutter immer wieder Kontakt über das Gesicht zu ihm auf. ... Im
allgemeinen wurde das Jungtier von seiner Mutter meistens ventral getragen:
79 mal gegenüber zweimaligem dorsalen Tragen, von seiner Tante hingegen
überwiegend dorsal: 396 mal gegenüber 74 maligem ventralen Tragen. Diese
Relation sollte auch im zweiten Abschnitt unverändert bleiben.“ (Seiten 42 -
43)
Parallel zu dem Auftreten des Tragens durch die Tante nahm auch die lokomotorische
Selbständigkeit des kleinen Brüllaffenmädchens kontinuierlich zu. Bereits in der
sechsten Lebenswoche kletterte es „bereits häufig über den Rücken der Mutter (und
auch des Vaters, soweit dieser in engem Körperkontakt zur Mutter saß) und setzte bei
seinen Erkundungsaktivitäten häufig seinen Schwanz ein. So „hangelte“ es bereits in
seiner sechsten Lebenswoche mit Hilfe desselben an der Käfigdecke entlang, wobei es
jedoch stets den Kontakt zur Mutter aufrechterhielt. Ab der siebenten Woche ...
kletterte es zum ersten Mal für einige Sekunden frei. ... Ab der achten Lebenswoche
konnte (Steinweg) häufig beobachten, dass das Jungtier frei in Richtung Sophie
kletterte und diese sich - kurz bevor das Junge bei ihr angelangt war - ein
Stück weiter entfernte. Zu diesem Zeitpunkt kletterte das Junge erstmals über
weitere Strecken, während sich die Mutter zeitweise ganz (also in die andere
Käfighälfte18)
entfernte.“ (Seite 53) In den nächsten Lebenswochen nahm dann das solitäre
Explorieren kontinuierlich zu, in der 11. Lebenswoche kletterte Susanne zu mehr als
die Hälfte der Beobachtungszeit allein herum. Ihr Klettern wirkte immer sicherer, in
der 17. Lebenswoche beobachtete Steinweg erstmals das freie Hängen nur am Schwanz,
Susanne hielt dabei die hinteren Extremitäten mit den vorderen fest, und das Klettern
von einer Käfighälfte zur anderen.
Zur Nahrungsaufnahme des Jungtieres führte Pia Steinweg aus: „Zu Beginn meiner
Beobachtungen, in der sechsten und siebenten Lebenswoche des Jungtieres, erfolgte
dessen Nahrungsaufnahme noch fast ausschließlich durch das Stillen. Zudem hatte
ich19
den Eindruck, dass die Mutter das Junge gelegentlich aktiv Mund zu Mund ... fütterte.
Diese „Kußfütterung“ erfolgte durch das Nähern mit anschließendem Kontakt
beider Gesichter, nachdem Sophie feste Nahrung zu sich genommen hatte. ...
In derselben Woche knabberte das Jungtier ... an einem Stück Ei, das die
Mutter in ihrer Hand hielt. Am 14.03., also in seiner achten Lebenswoche,
nahm es erstmals eindeutig feste Nahrung zu sich, indem es an einer Kartoffel
knabberte, die zuvor von der Mutter auf das Sitzbrett gelegt worden war. ...
Besonders in der zehnten Lebenswoche protokollierte (Steinweg) oftmals,
dass das Jungtier nach Nahrung griff, die (Fanny) in der Hand hielt. Diese
hielt sie allerdings so hoch, dass sie für das Jungtier unerreichbar war, und
drehte diesem dann den Rücken zu, wenn sie mit der Nahrungsaufnahme
fortfuhr.
Im zweiten Beobachtungsabschnitt, also ab der 16. Lebenswoche des Jungtieres, bewegte
sich dieses selbständig zur Futterstelle hin, um sich Nahrung zu holen. Es kletterte mit
der Nahrung dann häufig zu einem anderen Platz, ließ die Nahrung aber unterwegs
häufig fallen. ... Zusätzlich wurde das Jungtier aber auch in der 23. Lebenswoche noch
gestillt, wenn auch kurz. Die Brust der Mutter war bis zum Abschluss der
Beobachtungen noch vergrößert. Während der gesamten Beobachtungszeit habe
ich20
nie gesehen, dass die Mutter das Junge abgewiesen hat, wenn es gestillt werden
wollte. Oft erleichterte sie es ihm noch, indem sie einen Arm hob oder ihre
Körperhaltung veränderte, um dem Jungen einen besseren Halt zu bieten.“(Seiten 55 -
56)
Ab der achten Lebenswoche suchte Susanne Fanny aktiv öfter auf als ihre Mutter.
Kündigten Geräusche im Nebenraum das bevorstehende Eintreten einer Person an,
suchte sie aber bevorzugt die Mutter (achtmal) und nicht die Tante (einmal) auf. Zu
den Kontakten Susannes zu Ali berichtete Steinweg: „Der Kontakt zwischen Vater
und Jungtier konnte im ersten Abschnitt an fünf Tagen beobachtet werden.
Allerdings versuchten sowohl die Mutter als auch die Tante in den ersten drei
Beobachtungswochen immer wieder, den Kontakt zwischen Vater und Jungtier zu
unterbinden, indem sie sich zwischen die beiden drängten oder das Junge zu sich
holten. So auch, als das Jungtier am 14.03. frei kletterte und dabei intensiv Laute von
sich gab. Der Vater näherte sich ihm, worauf die Mutter rasch zu beiden
kletterte, das Jungtier übernahm und daraufhin der Tante übergab. ... Am 31.03.
verbrachte das Jungtier erstmals eine Minute alleine bei ihm, nachdem es zu ihm
geklettert war. Etwa eine halbe Stunde später kletterte seine Mutter mit ihm
zum Vater und ließ es dort zurück, worauf das Junge das Gesicht des Vaters
betastete, was dieser regungslos über sich ergehen ließ.“ (Seiten 43 - 45) Pia
Steinweg beobachtete auch, dass Ali aktiv zur Laute (des Verlassenseins) von sich
gebenden Susanne hinkletterte, seinen Oberkörper zu ihr beugte und seinen Hals
präsentierte.
Neben dieser erfolgreichen Aufzucht muss ich leider auch eine zweite - fehlgeschlagene
- berichten. Am 15.01.1995 fanden meine Tierpflegerinnen die tote Sophie in einer
riesigen Blutlache vor, sie war offensichtlich einer Plazenta-Blutung erlegen, vielleicht
war der 340 g schwere Foetus, den wir ihr tot entnahmen, auch übertragen.
Weitere Geburten erfolgten nicht. Susanne wuchs zu einer ebenfalls stets aktiven
Brüllaffen-Dame heran.
Da unsere Brüllaffen bis April 1997, hier wurden sie gewaltsam aus der
Primatenstation entfernt, gesund und munter waren, möchte ich ausführlich unsere
Haltungserfahrungen berichten und zitiere daher einen Brief, den ich - im Interesse der
Tiere - am 30.04.1997 an die neuen Halter gerichtet habe:
„Brüllaffen sind äußerst sensibel, sie springen unbeholfen (und vermeiden meist
Sprünge), dementsprechend müssen alle Strukturen auch kletternd erreichbar sein.
Brüllaffen benötigen persönliche Zuwendung zum Wohlbefinden. Fühlen sie sich
vernachlässigt, „leiden“ sie. Durchfall ist bei Ihnen noch alarmierender als bei
Springaffen. Brüllaffen können leicht durch zu große Gabe von Bananen (die sie leider
gerne fressen) und Zitrusfrüchten schnell umgebracht werden. Wenn ich unsere Routine
anwendete, würde ich zwei verschiedene Futterbreisorten herstellen, Springaffenbrei
und Brüllaffenbrei, wobei 2/3 des Springaffenbreies für die Brüllaffen bestimmt
sind21.
Springaffenbrei: 40 g Magerquark, 20 g Heilnahrung, 30 g Bananenmilchbrei, 1 g
Calcipot, 2 g Vitakalk, 1 g Weizenkleie, 0,1 g Salz, 12 g Sanostol, 4 Tr. Vigantol, 3 Tr.
Polybion, 1 Tr. Ferro 66, 25 mg Perenterol, 1,5 mg Elotrans, in 200 ml Wasser
verrühren und anschließend mit 110 g Reisflocken andicken. (Zum Wasser: 50 ml
aufkochen mit einer Messerspitze Geliermittel, anschließend auf 200 ml mit kaltem
Wasser auffüllen).
Brüllaffenbrei: 56 g Magerquark, 13 g Heilnahrung, 2 g Vitakalk, 0,2 g Weizenkleie,
0,05 g Salz, 4 g Sanostol, 3 Tr. Vigantol, 3 Tr. Polybion, 1 Tr. Ferro 66, 25 mg
Perenterol, 1,5 mg Elotrans, in 100 ml heißem Wasser verrühren und anschließend mit
50 g Reisflocken andicken.
Die Brüllaffen würden den Brüllaffenbrei in drei im Käfig in höher gelegenen
Stellen portioniert bekommen, so dass jedes Individuum seine Portion
erhält. Die Breiaufnahme der Brüllaffen hätte ich beobachtet (ob jeder
seinen Anteil bekommen hat). Dementsprechend würde dann der Rest des
Springaffenbreies22
sukzessive verteilt. Die Brüllaffen sind es gewohnt, an das Gitter zu kommen, um den
Brei direkt von uns in die Hand oder den Mund zu bekommen. Kommen sie nicht an
das Gitter, ist dies ein Alarmsignal!
Die Brüllaffen erhielten dann mittags pro Tier zwei Stück Kartoffeln (kleine
Kartoffel), im Wechsel 1/3 gekochter Hühnerschenkel oder 1/2 gekochtes Ei, 1
Zwieback, 1/2 Möhre, 1/3 Apfel, 1/3 Kopf Kopfsalat.
Die Brüllaffen erhielten nachmittags pro Tier 1/2 Banane, 1/2 Apfel, 1/2 Möhre,
jeweils 2 Stücke Paprika/Zwiebel/Sellerie/Kohlrabi/Tomate, verschiedenes sonstiges
Gemüse, 1/3 Kopf Lollo Rosso.
Abends erhielten die Brüllaffen verteilt zwei händevoll Marmoset Pellets.“.
Selbstverständlich sind die Erkenntnisse in diesem Kapitel nicht mit denen der
übrigen beschriebenen Species vergleichbar, haben wir doch bei dem Schwarzen
Brüllaffen kein quantitativ auswertbares Datenmaterial. Unsere wenigen Ergebnisse
belegen jedoch, dass Brüllaffen früh geschlechtsreif werden können. Ali war bei der
Geburt seiner Tochter Susanne noch keine fünf Jahre alt, dass die Mutter
Sophie bereits im 3. Lebensjahr schwanger wurde, habe ich bereits betont. Die
Gewichtsentwicklung verläuft sehr schnell, zwei im Oregon RPRC zumindest zwei
Jahre lang gehaltene Brüllaffenmännchen dieser Species nahmen in den ersten 9
Monaten 250 g/Monat, in den neun folgenden Monaten 200 g/Monat und später 100
g/Monat zu. Sie wachsen also viel schneller als andere Affen vergleichbarer Größe.
([127])
Die Umfärbung der Männchen erfolgt im dritten
Lebensjahr23.
Pia Steinwegs Beobachtungen zur körperlichen Entwicklung des Jungtieres und zur
beginnenden Selbständigkeit sind übereinstimmend mit den Daten von Alan H.
Shoemaker24.
Dagegen sind unsere Befunde zum Tantenverhalten in dieser Form noch nicht beobachtet
worden, wobei wiederum das Faktum der Fremdelternpflege durchgängig für Brüllaffen
berichtet wird (vgl. u. a. [15]). Unsere Beobachtungen des unterschiedlichen
Trageverhaltens von Mutter und Tante erlauben die Spekulation, ob die „Mutter“, die
das Junge auf dem Rücken trägt, tatsächlich die Mutter ist. Nach unseren
Beobachtungen könnte ein Merkmal das Säugen des Jungen sein. Doch kann
vermutet werden, dass in größeren Sozialgruppen auch Weibchen, die ihre
eigenen Jungen verloren haben, das Saugen durch ein Kind zulassen. Insofern
kommt dem Nachweis der Mutterschaft sicherlich hohe Bedeutung zu. Das
Vorfinden eines Jungtieres neben einem Sozialpartner, wie in Abbildung 12.25 für
Alouatta fusca dokumentiert, erlaubt keine Aussagen zu verwandtschaftlichen
Beziehungen.
Shoemaker ([202]) berichtet, dass ein bestimmter Platz zum Defäkieren aufgesucht
wird, dementspechendes beobachtete auch Steinweg und interpretierte das
gemeinsame Koten als allelomimetisches Verhalten. Das Aufsuchen eines festen
Platzes zum Defäkieren berichtete auch bereits A. Wetzel, der neben einem
Kapuzineraffen auch einen jungen Schwarzen Brüllaffen im Haus frei hielt.
([294]
Freilandbeobachtungen an Alouatta caraya unter halbnatürlichen
Bedingungen ([15], [16]), belegen auch für den Schwarzen Brüllaffen
Emigrationen und Immigrationen von Weibchen und Männchen. Emigrationen
waren mit einem hohen Todesrisiko verbunden, Immigrationen mit
Infantizid.25
Nach meiner Einschätzung sind Brüllaffen die meist unterschätzten Affen Südamerikas.
Damit bin ich in Übereinstimmung mit Wetzel ([294], der erstaunliche Leistungen
seines Brüllaffen Uung berichtet, von denen ich eine Leistung in der Fußnote
berichte.26
„An dieses blitzschnelle Erfassen der Situation und die geschmeidige Gewandtheit des
Brüllaffen habe ich immer denken müssen, wenn ich las, daß Brüllaffen geistig nicht
sehr hoch einzuschätzen seien und sich an Beweglichkeit mit den anderen
brasilianischen Affen nicht messen könnten.“ ([294], Seite 83)
1Diese Untersuchung war die dritte an nichtmenschlichen Primaten, bereits zuvor wurden von Henry W. Nissen Freilandbeobachtungen an Schimpansen und von Harold C. Bingham an Berggorillas publiziert.
2Robert M. Yerkes schrieb am 23. Januar 1934 in seinem Vorwort zu der 1934 publizierten Monographie u. a.: „The present report is the first to deal in strictly naturalistic fashion with a New World primate. ... Nearly five years ago my attention was invited by Doctor Frank M. Chapman, ..., to what he considered an extraordinarily favorable opportunity for a field study of howling monkeys in Panama. ... and in letter of February 1, 1931, he offers this picture: „In the trees nearly over my house there are at the moment seventeen howlers, three of which carrying young ... a unique opportunity here to study the individual, the family, the clan, the inter-clan relations under a wholly natural but controlled (that is conserved) environment. A year in the field ... every day ... would yield results.“ ... The report (die Monographie von Carpenter) which is my privilege thus to introduce historically speaks plainly for itself. No one familar with the pertinent literature on social behavior, and especially with that on the primates, will overlook the unique features of the author’s contribution of fact. ...“ ([18], Seiten 3 - 4).
3Tatsächlich wohl eher häufig, bei einigen Feldforschungen „verschwanden“ alle Jungtiere.
4Während des mehrtägigen Aufenthaltes im Camp wurde ich aber, wie Bill Mason es formulierte, „hero by ignorance“, ich photographierte trotz der intensiven Bemühungen meines Führers, mich davon abzuhalten, eine - meiner Meinung nach - ungefährliche Riesenschlange. Mein Führer demonstrierte mein Verhalten abends am Lagerfeuer seinen einheimischen Gästen, und ich erntete anerkennende Blicke, die ich nicht meinte, verdient zu haben. Ein Schlangenspezialist klärte mich dann auf, ich hatte mich ahnungslos Bushmaster genähert, der wohl giftigsten Schlange Südamerikas.
5Der Braune Brüllaffe Alouatta fusca wäre eventuell korrekter als Alouatta guarica zu bezeichnen ([141]).
6Im Nachhinein dürfte es gute Gründe gegeben haben, warum sowohl die Halter in Twycross als auch in Kilverstone sich von Yellow Lady trennen wollten. Ich vermute heute, dass sie nicht sehr gesellig mit anderen Brüllaffen umgegangen sein mag.
7Weitaus besser wäre es gewesen, wir hätten den großen Brüllaffenkäfig geteilt und Yellow Lady mit Gitterkontakt separat gehalten, aber wir haben dies nicht gemacht.
8Ich hätte es eigentlich besser wissen müssen, bereits Benton ([10]) warnte vor dem Einsatz eines Breitbandantibiotikums, hierdurch könnte das gesamte Verdauungssystem Schaden nehmen: „The literature as far as our search has taken us, does however seem to indicate that the extensive (and we believe in many cases unwarranted) use of broad-spectrum antibiotica in the treatment of real or suspected ailments results in an imbalance or destruction of normal intestinal flora. ([10], Seite 150).
9Pia Steinweg: Das Sozialverhalten des Schwarzen Brüllaffen Alouatta caraya in Menschenobhut unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung eines Jungtieres. Wissenschaftliche Hausarbeit zur ersten Staatsprüfung für das Lehramt am Gymnasium an der Gesamthochschule Kassel. Kassel, 30.08.1994.
10Pia Steinweg
11Susanne war 45 Tage alt.
12Pia Steinweg
13Susanne wurde in dieser Zeit fünf Monate alt.
14Pia Steinweg
15Zur Datenauswertung: „Die jeweiligen Beobachtungen fanden in halbstündigen Abschnitten statt, wobei die Aktivitäten der Tiere pro Minute protokolliert wurden. Um den Tagesmittelwert der Aktivitäten zu erhalten, wurden diese addiert und durch die Anzahl der beobachteten Halbstunden-Abschnitte geteilt. ... (Der) Wochenmittelwert (wurde) errechnet, indem die Tagesmittelwerte einer Woche addiert und durch die Anzahl der beobachteten Wochentage geteilt wurden, ... der Gesamtmittelwert ..., indem alle Tagesmittelwerte eines Beobachtungsabschnittes addiert und durch die Anzahl der in der in jedem Abschnitt beobachteten Tage geteilt (wurden).“ (Seite 14)
16Entsprechende Beobachtungen hatte bereits Carpenter für den Mantelbrüllaffen beschrieben.
17Pia Steinweg
18Beide Käfighälften waren nur über eine kleine verschließbare Schieberöffnung verbunden.
19Pia Steinweg
20Pia Steinweg
21Der entsprechende Halter hatte auch eine Springaffenfamilie in der Station eingefangen.
221/3 des Breies war für die drei Springaffen bestimmt.
23„Thought to be about 12 months old at importation, all the juveniles remained in immature coloration from March, 1974 to early fall, 1975, a period of 18 months. .... In January, 1976, both female colored males were now much darker and turned to be complete blackness of maturity by spring, 1976.“ ([201], Seiten 228 - 229)
24„These initial excursions were for distances of about one metre, the infant crawling, with poor co-ordination, along the branch on which the female was resting. For many months, however, the young would quickly return to its mother at the approach of the other adult howlers or humans, and frequently the mother went towards the infant or reached out to grasp it as it retreated from a potential or imagined threat.“ ([202], Seite 152)
25„Male changes occurred and seem to be followed by infanticides“ ([16], Seite 229).
26Eines Tages sah er seine Umwelt um einen Vierfüßler bereichert. Ein erwachsener Terrier war
hinzugekommen. Dieser erhob ein großes Gekläff, verstummte aber mit der Zeit, als sein lautes Getue
auf Uung keinen Eindruck machte. Denn dieser blickte ihn nur unentwegt und still an; mit
Leichtigkeit hätte er ihn überschreien können. Nach einiger Zeit hatte Uung herausbekommen, daß an
der Bauchseite eines Terriers eine unbehaarte, warme Stelle ist, und bald sah man ein Stilleben, einen
schlafenden Hund und eng an ihn geschmiegt Uung, den Brüllaffen, still und glücklich. Der Hund
stand auf; Uung saß ihm unversehens auf dem Rücken. Der Hund knurrte; Uung blickte
friedlich. Der Hund schnappte; Uung nahm beizeiten seine Finger weg. Der Hund wälzte
sich; währenddesssen stand Uung neben ihm. Der Hund enteilte, aber im Dahinrennenen
spürte er, daß Uung bereits wieder aufgesessen war. Für uns und die Schüler war all das
sehr erheiternd. Schließlich hatte auch der Hund verstanden und ergab sich darein; die
stille, gleichmäßig milde Pädagogik hatte obsiegt. Mit seinem Reiter schritt er einher oder
galoppierte über den freien Platz an der Avenida Mem de Sá, sehr zum Gaudium der
Straßenjungen. Denn auch außerhalb hatte der Hund manches zu tun, was Uung abgesessen
abwartete.
Einmal, auf dem Schulhofe und während der Pause, erblickte der Hund eine Katze. Urfeindschaft
flammte auf. Die Katze flitzte zwischen den Beinen hindurch und entwischte durch ein
Hühnerloch im Zaun. Der Hund samt Reiter im Sturm hinterher. Die Zuschauer waren
starr; jetzt mußte sich Uung den Schädel einstoßen. Doch nein! Ohne besondere Hast
überkletterte er den Zaun und war schon wieder aufgesessen, als der Hund wieder in Fahrt
kam.