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Gedanken zur Evolution

Fast jeder von uns hat schon Reisen gemacht. Dabei treffen wir gemeinhin auf Neues und Fremdes. Betrachten wir ein beeindruckendes Bauwerk, fragen wir entweder: „Wer wohnt hier?“ oder „Wer hat hier gewohnt?“ Wir interessieren uns wirklich, begnügen uns aber in der Regel mit einer kurzen Antwort. Ist der Erbauer berühmt, wird der Erbauer genannt, ist der Architekt berühmt, wird der Architekt genannt. Wir fragen meist nicht genauer nach und fühlen uns sogar bei zu vielen Einzelheiten strapaziert. Wir fühlen uns genervt von dem langatmigen Reiseführer und wollen weiter, um – so bilden wir uns ein – noch mehr zu erfahren. Mit dieser Einstellung gehen wir an die meisten Gegenstände unserer Umgebung heran, der Markenname, den wir zu kennen meinen, bringt uns dazu, dem Produkt zu vertrauen. Mit dem gleichen oberflächlichen Interesse treten wir Menschen auch an die Natur heran. Wir fragen, wer hat sie geschaffen, und begnügen uns mit einer einfachen Antwort. Gott hat sie geschaffen. In unserer mehrheitlich christlichen Welt bekennen wir sogar diesen Glauben.1 In anderen Gesellschaften wird auch ein Gott oder aber verschiedene Götter für die Erschaffung verantwortlich gemacht. Diejenigen von uns, die in der Schule das Wort Evolution gehört haben, werden sich mehrheitlich wahrscheinlich nicht mit der Geschichte vom Schöpfergott2 zufrieden geben, sollten wir doch eigentlich wissen, dass unsere natürliche Umgebung und wir selber das Ergebnis einer sehr langen stetigen Entwicklung sind. Wir antworten dennoch auf die Frage, wer hat die Natur geschaffen: Gott hat sie erschaffen, aber sie ist auch Ergebnis der Evolution. Diese Einsicht – Evolution – verdanken wir dem englischen Forscher Charles Darwin, der im neunzehnten Jahrhundert nach Beginn der christlichen Zeitrechnung die Evolutionstheorie aufgestellt hat. Ich bin sicher, dass die große Mehrheit von uns Schwierigkeiten hat, sich Evolution auch vorzustellen, sich bewusst zu werden, dass wir Menschen – wie alle Pflanzen und Tiere – uns auf so etwas wie eine Bakterienzelle zurückführen lassen, und dass wir – wiederum wie alle Pflanzen und Tiere – momentane zufällig entstandene Endprodukte einer ungerichteten Entwicklung sind. Wir werden Schwierigkeiten haben zu glauben, dass wir keineswegs perfekt entwickelt sind, vielmehr die gesamten Informationen unserer Entwicklung in uns tragen, darunter auch die Informationen, die eigentlich unwichtig oder aber gefährlich für uns sind.
Insofern erscheint es mir wichtig, sich bewusst zu machen, was Evolution ist und letzlich bedeutet. Wichtigste Grundlage ist die Erkenntnis, dass überall in der Natur mehr Nachkommen produziert werden als unbedingt nötig sind, um den Bestand zu erhalten. Als Beispiel betrachten wir hier nur das häufigste heimische Säugetier, die Feldmaus. Die Kopfrumpflänge von Microtus arvalis beträgt 9 - 12 cm. Unter günstigen Bedingungen kann der erste Wurf bereits im Alter von fünf Wochen erfolgen, danach werfen die Feldmausmütter in rascher Folge, im Sommer alle drei Wochen 4 - 7 Jungtiere. Diese Angaben machen verständlich, warum die Feldmäuse als Nahrungskonkurrenten gefürchtet sind, können sie sich doch exponentiell vermehren. Ich sehe den Leser mit dem Kopf nicken, alle 3 Wochen 4 – 7 Jungtiere, exponentielles Wachstum, wie schrecklich! Was heißt exponentielles Wachstum wirklich. Zum besseren Verständnis wollen wir das theoretische Vermehrungspotential der Feldmäuse exemplarisch betrachten. Wir gehen bei unserer Rechnung von der Minimalannahme aus, dass eine Maus nur einmal wirft und dass die Jungenzahl alle fünf Wochen nur vier Junge beträgt. Bei einem Geschlechterverhältnis von Männchen zu Weibchen von etwa 1:1 können wir im Mittel also 2 Männchen und zwei Weibchen als Nachkommen eines Ausgangspaares erwarten. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass sich nach jeweils fünf Wochen die Mäusepopulation verdoppelt hat.3 Nach einem Jahr hätten wir 210, nach zwei Jahren 220 Mäuse und bereits nach nicht einmal 6,5 Jahren wäre die Schachbrettsituation4 erreicht, 264 Feldmäuse tummelten sich auf unserer Erde. Wir müssten uns also vorstellen, dass an jeder auf unserer Erde denkbaren Fläche, ob Wasser oder Land 72 Feldmäuse übereinander gestapelt sind. Wir wissen durch eigene Erfahrung, dass es diese Mäuseschichten nicht gibt. Verantwortlich hierfür ist das Phänomen, das Charles Darwin natural selection genannt hat. Natürliche Auslese, was können wir darunter verstehen? Bleiben wir bei unserem Mäusebeispiel. Mäuse sind Nahrung für zahlreiche Beutejäger, von denen Katzen und Greifvögel (z. B. der tagaktive Mäusebussard, nachtaktive Eulen) uns allen bekannt sind. Nimmt die Mäusepopulation zu, haben diese Beutejäger bessere Chancen, sich selbst zu vermehren, der sogenannte Predationsdruck5 nimmt zu, was sogar einen negativen Einfluss auf die Populationsentwicklung haben mag, besonders „unvorsichtige“ Mäuse werden ausgerottet, nur diejenigen, die sich zu verstecken wissen, haben Chancen, ihr Erbgut an die nächste Generation auch weiterzugeben. Darüber hinaus werden gerade in unseren Breiten die Mäuse schon Schwierigkeiten haben, den Winter zu überstehen.
Wir können also sagen, dass in den abertausenden Jahren Mäusegeschichte nur diejenigen Feldmäuse erfolgreich waren, die über das beschriebene Vermehrungspotential auch verfügten. Dies gilt nicht nur für Mäuse.

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#Ohne##jeden#Zweifel#muss##davon##ausgegangen##werden,##dass#nur##diejenigen#
#Arten##es##geschafft##haben,##auch###heute##noch##am###Leben##zu##sein,#bei#
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#denen##im##Mittel#zwei#Jungtiere#pro#Weibchen###die#Geschlechtsreife#erreicht#
#haben.###Diese#¨Uberlegung##hat##Konsequenzen###fu¨r##die#Produktionsleistung#
#des##entsprechenden##Weibchens.#####Die##etwa##drei##Jahre##alt##werdenden##
#Schiffsbohrmuscheln##Teredo#navalis##m¨ussen#3#–#4 mal#im#Jahr#1#–#5 Millionen
#Eier#produzieren,#um##auch##heute#noch##zu#existieren.##Dies#heißt#nat¨urlich#
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#auch,#dass#bei#einer#Populationskonstanz##noch##nicht#einmal##jede#millionste#
#Schiffsbohrmuschel##die#Geschlechtsreife#erreicht.#Nicht#alle#Muscheln##leben#
#derartig##gef¨ahrlich.##Die##auch##bei#uns#vorkommende####Malermuschel###Unio#
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#den##Kiemen##von##Fischen##verbringen,##ben¨otigen##nur#300##000#Larven##pro#
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#Muttertier, um#das#Ziel, im#Mittel#2#erwachsene#Nachkommen###pro Muttertier,
#auch#zu#erreichen.#Wir##k¨onnen#uns##aber#sicherlich##auch#gut#vorstellen,#was#
#ein#solches#Vermehrungspotential##unter#g¨unstigen#Bedingungen###verheißt.####

Gemeinsam mit meinen Mitarbeitern haben wir über Jahrzehnte 200 bis 300 Primaten gepflegt, gleichzeitig und unbeabsichtigt waren wir aber Besitzer von tausenden Schaben, die unseren regelmäßigen Vernichtungsbemühungen Stand gehalten hatten, was bei einer mehr als 300 Millionen alten Schaben–Historie auch nicht verwundern mag. Unsere Schabe, die gemeine Küchenschabe Blatella germanica ist dabei – im Vergleich zu den angeführten Muscheln vergleichsweise träge in der Fortpflanzung. Ein Weibchen produziert in seinem Leben nur drei bis viermal Eipakete mit jeweils etwa dreißig Nachkommen6, doch wird Blatella bereits in zwei bis drei Monaten geschlechtsreif. Blatella germanica, die deutsche Schabe, heißt unser Mitbewohner nur, weil Carl von Linné, der ihr den Namen gab, kein Deutscher war. Innerhalb Deutschlands hatten die Schaben in Preußen den Namen „Polen“, in Bayern den Namen „Preußen“ und im Rheinland den Namen „Franzosen“.
Wir könnten nun Tierart für Tierart aufzählen, um uns an theoretisch Millionen von Bandwürmern pro Muttertier u. ä. zu berauschen, das Ergebnis bleibt immer dasselbe: nur im Mittel zwei Individuen pro Muttertier erreichen die Geschlechtsreife, ansonsten wäre die Welt mit der entsprechen Art „gepflastert“. Wir erkennen aber auch hier schon die in jeder Hinsicht drohende Gefahr. Einerseits können sich unter optimalen Bedingungen – z. B. Erwärmung bei uns im Winter – bestimmte Tiere optimal vermehren, andererseits nehmen wir durch möglicherweise eigentlich unbeabsichtigte Eingriffe, wie ein Hotel im Brutgebiet von Meeresschildkröten7, anderen Arten die Chance, ihre momentane Populationsdichte auch in der Zukunft zu erhalten.
Wir können durch unsere Beispiele erkennen, dass durchgängig mehr Nachkommen produziert als scheinbar benötigt werden. Hier setzt nun die natürliche Auslese, die Selektion, an. Nur diejenigen Individuen, die an ihre Umgebung hinreichend „angepasst“ sind, um langfristig in ihren Nachkommen zu überleben, sind „fit“. Das Maß für die Fitness ist stets die Anzahl der überlebenden Nachkommen. Diese Form der Fitness wird in Anlehnung an Darwin auch „Darwinian fitness“ genannt. Die Selektionsmaßstäbe sind häufig einfach und sofort einsehbar. So lebt an der Atlantikküste in der Gezeitenzone eine kleine eineinhalb bis drei Millimeter großwerdende Zuckmücke Clunio marinus. Um zu gewährleisten, dass auch eine hinreichende Anzahl von Nachkommen überlebt, muss die erwachsene Mücke aus ihrer Puppe zu einer ganz bestimmten Gezeitensituation schlüpfen, die etwa alle zwei Wochen zu einer bestimmten Uhrzeit mit dem Springniedrigwasser auftritt. Die Mücke hat dann etwa eine Stunde Zeit, sich zu vermehren, was ihr auch den Namen Einstundenmücke eingebracht hat. Wir können uns leicht erklären, warum nur die Mücken heute noch leben, die über ein entsprechendes genetisches Programm verfügen. Dies ist aber nicht der Grund, warum ich hier Clunio anführe. Der Zeitpunkt des Springniedrigwassers ist an der Atlantikküste nicht einheitlich. An der baskischen Küste findet er Stunden später statt als in der Normandie und dennoch finden wir überall Einstundenmücken. Durch die Selektion haben sich an verschiedenen Stellen der Küste unterschiedliche Zeitrassen gebildet. Nur die Individuen können sich vermehren, die das richtige genetische Programm haben, die zum falschen Zeitpunkt schlüpfen sterben zwangsläufig aus.
Der vorherige Absatz könnte falsch zusammengefasst werden mit: Clunio hat sich an die Gezeiten angepasst. Ich hoffe, ich habe deutlich gemacht, dass diese Aussage nicht stimmt. Nicht Clunio hat sich angepasst, vielmehr haben die zufällig angepassten Individuen überlebt! Aussagen wie „viele Insekten sieht man nur schwer, da sie sich ihrem Untergrund angepasst haben“, sind ebenso nachfragenswert. Mimen im Schauspiel sind die Akteurin oder der Akteur, die aktiv etwas darstellen, was sie wollen und sollen. Die Mimese hingegen wird von dem Individuum nicht beinflusst, sie ist vielmehr Ergebnis der aktiven Selektion durch den Beutejäger. Eindruckvolles Beispiel ist hier ein häufiger Schmetterling, der Birkenspanner Biston bitularia. Wie der erste Teil des Namens bereits andeutet, ist der erwachsene Schmetterling auf Birken zu finden8. Der Birkenspanner–Falter bleibt am Tage inaktiv und breitet seine Flügel aus. Zahlreiche Vögel nehmen gerne Spanner zu sich. Insofern ist leicht nachvollziehbar, dass diejenigen Falter, die bis heute überlebt haben, diejenigen sind, die am wenigsten von dem Untergrund unterscheidbar sind. Wie schnell eine solche Selektion vor sich gehen kann, dafür ist nun Biston das Beispiel. Im Zuge des Industrialisierung wurden in England (und nicht nur in England) Ruß und Abgase freigesetzt, mit dem Ergebnis, dass die ehemals hellen Birken dunkel wurden. Parallel hierzu trat in Industriegebieten scheinbar plötzlich eine schwarze Form des Birkenspanners auf, die dann sukzessive die weiße Form des Spanners ersetze. Hatten die gefiederten Feinde des Birkenspanners in Zeiten, in denen die Birken noch nicht geschwärzt waren, vor dem menschlichen Beobachter die schwarze Mutante wahrgenommen und schlichtweg vertilgt, wurden nun die weißen Falter sichtbar und leichtere Beute. Der Birkenspanner passte sich auch hier nicht aktiv an, der Auslese durch den Beutejäger kommt die entscheidende Bedeutung zu9. Damit möchte ich ausdrücklich nicht ausschließen, dass bestimmte Schmetterlinge aktiv Orte aufsuchen, die in der Farbe ihrer Grundfarbe ähnlich sind. Vielmehr konnte ich dies selber bei einem Aufenthalt in einem Camp im atlantischen Regenwald Brasiliens durch ein Zufallsexperiment zwar nicht im wissenschaftlichen Sinne belegen, aber hinreichende Beobachtungen für einen entsprechenden „Anfangsverdacht“ sammeln. Meine Studenten hatten ihre feuchten Handtücher zum Trocknen aufgehängt, diese wurden dann Anflugsziele zahlreicher Schmetterlinge. Auf roten Handtüchern sammelten sich rote und auf blauen Handtüchern blaue Schmetterlinge, so dass sie vom Untergrund nur schwer unterscheidbar waren.
Gerade die brasilianischen Schmetterlinge beleuchten ein weiteres Beispiel für Selektion, nämlich für Mimikry, die sogenannte Signaltäuschung, die ebenfalls – wie ich zeigen werde – kein Beispiel für Abwehr durch Täuschung, vielmehr ebenfalls ein Beispiel für Beutejäger–Selektion ist. Der Engländer Henry Walter Bates sammelte 1848 bis 1859 in Brasilien Schmetterlinge und ordnete sie nach ihrem Aussehen. Er erkannte, dass farblich verwechselbar ähnliche Schmetterlinge keineswegs miteinander verwandt sein müssen, sie können ohne weiteres völlig unterschiedlichen Falterfamilien angehören. Dieses Phänomen wurde dann auch für zahlreiche Insekten weltweit beschrieben und wird nach Bates Bates–Mimikry genannt. Wir kennen es auch aus unseren Gärten, wenn wespenähnliche Schwebfliegen uns „Vorsicht“ signalisieren. Wir müssen uns also gleichzeitig mit zwei unterschiedlichen Fragen beschäftigen, zum einen – wie kommt es, dass man das stechende, giftige oder schlecht schmeckende Tier an seiner Färbung so schnell erkennt, zum anderen – wie kommt es, dass nichtstechende, ungiftige oder wohlschmeckende Tiere den anderen so überaus ähnlich sind.
Das erste Phänomen ist sehr leicht erklärt, der Beutejäger – im Fall der Schmetterlinge vor allem verschiedene Vogelarten – bringt zumindest theoretisch in der Anfangsphase des Selektionsprozesses jeglichen Schmetterling um, denn essbaren schluckt er herunter, den giftigen oder übel schmeckenden spuckt er wieder aus. Nehmen wir nun an, dass der ungenießbare Schmetterling irgendwelche Merkmale hat, so dass der Vogel die Ungenießbarkeit nach erstem Schmecken erkennt, so meidet er diesen nach erstem Probieren. Ziehen wir nun – wie oben bereits gezeigt – in Betracht, dass auch die Schmetterlinge sich exponentiell vermehren können und dass sie gleichzeitig in ungeheurer Anzahl ge- und verbraucht werden, können wir uns leicht vorstellen, dass über die Jahrmillionen diejenigen giftigen Schmetterlinge den Kampf um das Dasein für sich entschieden haben, die möglichst auffällig sind. Diese werden schlichtweg weniger verzehrt.
Das zweite Phänomen kann vergleichbar nachvollzogen werden. Der Beutejäger hat - wie wir gezeigt haben - gelernt10, er muss die giftigen Schmetterlinge meiden. Nehmen wir einmal an, wir müssten – wie ein Paar im Garten brütender Amseln – die Jungen nähren und so schnell wie möglich Schwebfliegen fangen, wir ließen schnell die wespenähnlichen aus. Hätten wir aber alle nicht wespenähnlichen gefangen, dann passten wir besser auf und würden als erstes uns auf die am wenigsten den Wespen ähnelnden konzentrieren. Dieser Prozess – weiter nachgedacht und über Jahrmillionen nachvollzogen – führt unweigerlich dazu, dass die Beutetiere – in unserem Fall die Schmetterlinge – dem giftigen Vorbild immer ähnlicher werden. Es ist aber hoffentlich auch klar geworden, dass die ungiftige Beute nicht täuscht, vielmehr ist die Ähnlichkeit eine aktive Leistung des Beutejägers, der erreicht, dass nur die angepasstesten Individuen langfristig eine Chance haben.
Wir haben am Beispiel von Räuber–Beute–Beziehungen dargestellt, wie natürliche Selektion funktioniert. Es muss nicht zwingend ein Beutejäger sein, der für die Entwicklung verantwortlich ist. Ich habe auf Konsequenzen des Klimawandels schon hingewiesen. Entsprechendes gilt für jegliche Änderung der Umwelt. Durch Änderungen entstehen neue Lebensräume mit bestimmten kleinklimatischen Bedingungen. Solche Lebensräume nennt man ökologische Nischen. Aussagen, wie, jeder Organismus findet seine ökologische Nische, sind dabei falsch. Richtig ist vielmehr, dass jede neue ökologische Nische die Karten der Evolution neu mischt. Sie bietet bisher vernachlässigten Individuen neue Chancen. Insofern ist jede ökologische Nische Geburtsherd natürlicher Selektion. Ökologische Nischen lassen sich mit Begriffen wie Wald, Regenwald, See oder Bach nicht hinreichend beschreiben. Bleiben wir bei dem Beispiel Wald, verschiedene alte und hohe Bäume bieten unterschiedlichen Arten den optimalen Lebensbereich, im Wurzelbereich, in verschiedenen Höhen vom Boden, in verschiedenen Teilen des Kronenbereiches. Verhindert man – wie in unseren Kulturlandschaften – das Altern der Wälder und das natürliche Sterben der Bäume, so entzieht man aktiv zahlreichen Arten den Lebensraum. Sie kommen nur noch dort vor, wo entsprechend hohe oder entsprechend morsche Pflanzen noch existieren. Fehlen die entsprechenden ökologischen Nischen, fehlen auch die sie beherbergenden Arten.
Beeindruckend war in diesem Zusammenhang die Bitte eines Kollegen um einen Tisch. Er wolle seine Käferpuppen sortieren. Er züchte eine Käferart, den Eremiten, der in unseren Breiten als ausgestorben gelte. Diese Käfer stammten aus einem Kasseler Park. Sie wären beim Fällen morscher Parkbäume entdeckt worden. Mein Interesse war erwacht, und ich sah mir die Puppen und die Käfer genauer an. Vom Eremiten hatte ich noch nie etwas gehört. Der Kollege hielt (und züchtete) ihn im Holzmehl morscher Bäume. In der mir damals zur Verfügung stehenden neueren Literatur (keine Spezialliteratur) fand ich keine näheren Angaben.11 Erst rückwärts suchend, in der vierten von Otto zur Strassen verantworteten Auflage des alten „Brehm“ aus der ausgehenden Kaiserzeit wurde ich fündig. Hier führte der damalige Neubearbeiter Richard Heymons aus: „Der größte europäische Käfer aus dieser Gruppe ist der Juchtenkäfer oder Eremit, Osmoderma eremita Scop., ein breiter, metallisch glänzender, schwarzbrauner Käfer von 26 – 33 mm Länge mit lederartig gerunzelten Flügeldecken. Beim Männchen hat der ausgehöhlte Kopf an jeder Seite einen spitzen Höcker, während beim Weibchen der Kopf einfach gewölbt ist. Der durch einen eigentümlichen Geruch ausgezeichnete Juchtenkäfer hält sich besonders an alten Weiden, Eichen und anderen Laubbäumen auf, in deren morschem Holz seine Larven ihre Entwicklung durchlaufen und sehr oft hoch oben im Stamm oder in faulig gewordenen Ästen zu Dutzenden beieinander hausen.“([83], S. 469) Insofern wird hier eine bei uns seltene ökologische Nische beschrieben. Ist diese – für uns verborgen – vorhanden, finden wir auch sicher den Juchtenkäfer.12
Am Rande sei nur bemerkt, dass das Sammeln einer „vom Aussterben bedrohten“ Käferart in unserem Land bestimmt nicht erlaubt ist, das Sammeln seltener Tiere wird unter Strafe gestellt. Dabei, und entsprechendes gilt auch für Schmetterlinge, wo nach meinem Wissen das Sammeln aller Tagfalter verboten ist, werden wir ohne die Sammler niemals erfahren, ob die Biotope, die den Larven der seltenen Käfer und Schmetterlinge die Nahrung bieten, nämlich die für diese notwendigen ökologischen Nischen, überhaupt noch intakt und vorhanden sind. Gerade die Mannigfaltigkeit eines Biotopes kann nur durch systematisches Sammeln und sorgfältiges Bestimmen erfasst werden. Dabei kommt selbst der Unterartenzugehörigkeit größte Bedeutung zu.
Insofern müssen wir uns mit verschiedenen Fragen befassen, was ist eine Art13, wie kann man sich die Bildung von Arten und Unterarten überhaupt vorstellen und wie kommt es zu Variabilitäten.14 In der Regel ist Grundvoraussetzung für die Zuordnung zu einer Art, dass die Tiere und Pflanzen einander ähnlich sind.15 Vernachlässigen wir Ausnahmen, dann sollten von diesen ähnlichen Lebewesen zwei Individuen unterschiedlichen Geschlechtes miteinander fruchtbare Nachkommen erzeugen können. Dabei kommt dem Wort „fruchtbar“ große Bedeutung zu. Sind die Nachkommen eines Paares nämlich nicht fruchtbar, haben sich Partner unterschiedlicher Arten verpaart. Dies spielt für die Evolution keine Rolle, nämliches gilt für die Verpaarung gleichgeschlechtlicher Partner ein- und derselben Art. Im ersten Fall sterben die unfruchtbaren Nachkommen aus, im zweiten Fall vermehren sie sich nicht. Wenn man innerhalb einer Art in der Regel örtlich getrennt auftretende äußerlich einheitliche Individuen unterscheiden kann, werden diese als Unterart getrennt beschrieben. Bereits mehrfach im Text habe ich einen aus zwei Begriffen gebildeten lateinischen Artnamen angegeben. Großgeschrieben wird der Gattungsname, durch den kleingeschriebenen Zusatz wird dann die Art benannt. Diese Festlegung geht auf den bereits erwähnten Carl von Linné zurück und wird in der Fachsprache binäre Nomenklatur genannt. Dabei legt der Erstbeschreiber den lateinischen Artnamen fest, beschreibt er eine Unterart, so wird dem Artnamen ein kleingeschriebener Zusatz angehängt.
Auf den ersten Blick scheint damit das Namengeben erklärt. Tatsächlich aber wurden zahlreiche Arten mehrfach als neu beschrieben. Hier haben sich nun die Wissenschaftler untereinander geeinigt, dass immer der älteste lateinische Name der richtige ist. Dies führt dann auch unvermeidlich dazu, dass im Schrifttum der Name ein- und derselben Art im Laufe der Zeit sich wandeln mag. Stellt nämlich ein Forscher fest, dass sich unter zwei (oder mehreren) lateinischen Namen nur eine Art oder Unterart verbirgt, so wird der jüngere Name für ungültig erklärt. Leider gibt es nun zwei Typen von Forschern, die die Namensfestlegungen schwierig machen. Die einen beschreiben beabsichtigt oder unbeabsichtigt ungerechtfertigt neue Arten, die anderen kassieren Namen aus Ignoranz, sie sehen die Unterschiede nicht, sie behaupten, diese und jene Unterart oder Art wäre identisch mit einer anderen, obwohl dies tatsächlich nicht stimmt. Dies scheint nach dem ersten Anschein unglaubwürdig zu sein. Tatsächlich aber sind wir Menschen nur in der Lage bei uns Bekanntem sorgfältig zu differenzieren. So können wir Deutschen z. B. – wie alle Menschen – unsere Nachbarn individuell unterscheiden. Wir achten auf kleinste Unterschiede, ohne uns dessen bewusst zu sein. Wir schütteln fassungslos unseren Kopf, wenn wir hören sollten, alle Deutschen sehen gleich aus. Nehmen wir einmal an, ein Deutscher wäre Zeuge eines Verbrechens, so kann er den Verbrecher relativ gut beschreiben. Hat dieser Verbrecher aber schwarze Hautfarbe, dann wird die Beschreibung auf „Afrikaner“ reduziert, vielleicht noch um den Zusatz groß, klein, dick oder dünn ergänzt. Das gleiche Unvermögen des Unterscheidens zeigen wir bei dem Betrachten unserer pflanzlichen und tierlichen Umwelt. Wir geben uns meist mit der Bezeichnung „ein Käfer“ oder „ein Schmetterling“ zufrieden. Dies ist vergleichbar, wenn man uns als „ein Primat“ oder als „ein Herrentier“ beschreiben würde. Insofern mag die beschriebene Ignoranz menschlich verständlich sein. Solange man sich dieser angeborenen Ignoranz bewusst ist und bei Festlegungen vorsichtig bleibt, mag diese unproblematisch sein.
Aber zurück zur Art– und Unterartenbildung. Stellt man sich eine Art als eine geschlossene Population in einem bekannten Gebiet bekannter Umgebungsdaten vor, so können wir davon ausgehen, dass die Art sich kaum ändert. Zwar finden durch zufällige Fehler im Rahmen des Fortpflanzungsprozesses ständig Änderungen im Erbgut statt, doch führt dies höchstens zu einer gewissen Optimierung der Erbsubstanz, grobe Fehler werden durch die Fortpflanzungsprozesse repariert. Tatsächlich aber bleibt eine Art nicht auf ein Gebiet beschränkt. Bestimmte Individuen dringen z. B. in benachbarte Gebiete vor. Über die Zeit oder durch Änderung der Umgebung reißt die Verbindung zur eigentlichen Kernpopulation ab, so dass sich nun zwei Populationen getrennt entwickeln können und müssen. Stellt man sich z. B. eine weitere Erwärmung der Erde vor, verbunden mit dem Abschmelzen der Polkappen, dann steigen die Meeresspiegel, es entstehen Inseln, deren Bewohner keinen Kontakt mehr zu den übrigen Artgenossen auf dem Festland unterhalten. Unter den Bedingungen der Insel könnten andere Qualitäten als auf dem Festland für die Fitness des Individuums verantwortlich sein. Wenn wir bei dem Inselbeispiel bleiben, können wir uns auch leicht vorstellen, dass nicht alle Arten „fit“ genug sind, um hier zu überleben, d. h. es werden vormals besetzte Lebensräume frei, die dann von enstandenen oder enstehenden Arten besetzt werden können. Wie nun neue Unterarten und Arten entstehen können, die unterschiedliche Erbinformationen auszeichnen, soll an einem einfachen Beispiel gezeigt werden. Im Gegensatz zu Charles Darwin wissen wir hinreichend, dass die große Mehrheit16 der Erbinformationen im Zellkern liegen. Dort sind sie auf den Kernfäden, den Chromosomen, lokalisiert. Wir wollen nun davon ausgehen, dass unsere Beispielart vier Chromosomen hat. Soweit es sich um ein höheres Tier handelt, wissen wir auch, dass jeweils zwei Chromosomen identisch sind, da diese Tiere stets einen doppelten17 Chromosomensatz besitzen.


Abbildung 2.1: Skizze des Erbganges bei Verpaarung von zwei Individuen der Ausgangsart „A“


In der Abbildung 2.1 (und den folgenden Abbildungen) ist dies jeweils skizzenhaft angegeben. Die oberen beiden Kreise symbolisieren die Elterngeneration. Die Hälfte dieser Chromosomen geben die Eltern an ihre Nachkommen weiter. Die Ovale kennzeichnen die Geschlechtsprodukte, die man sich als Ei– und Samenzelle vorstellen kann. Insofern besitzen auch die Nachkommen – die unteren vier Kreise – auch nur den doppelten Chromosomensatz. Daher muss vor der Bildung der weiblichen Eizellen bzw. vor der Bildung der männlichen Samenzellen eine Reduktion des Chromosomensatzes erfolgen. Die vorhergehende Teilung des Kernes wird daher auch Reduktionsteilung genannt. Sie unterscheidet sich von der „normalen“ Zweiteilung erheblich. Da – wie bei letzterer – auch bei der Reduktionsteilung das genetische Material verdoppelt wird, ist das Ergebnis der Reduktionsteilung eine Teilung in vier Teile. Nun muss sichergestellt werden, dass auch alle vier Teilstücke identische Chromosomen haben. Dies schafft die Zelle durch einen komplizierten Mechanismus. Zuerst legen sich die jeweils gleichen Chromosomen direkt nebeneinander, so dass sie nach verschiedenen Seiten auseinander gezogen werden können. Klappt dieser Vorgang nicht, führt die Reduktionsteilung nicht zum Erfolg.
Dieser Mechanismus (vgl. Abbildung 2.2) stellt also auch einen Reparaturbetrieb dar, bei dem alles Kaputte eliminiert wird. Aus der Skizze können wir erkennen, dass auch die Nachkommen mit einem Gendefekt – obwohl sie Erbinformationen von beiden Eltern erhalten haben – sehr wohl zu dieser Reduktionsteilung in der Lage sind.



Abbildung 2.2: Skizze des Erbganges bei Verpaarung von zwei Individuen der Ausgangsart „A“, von denen eines einen Gendefekt hat.


Wir stellen uns nun vor, unsere Art hätte eine Erbinformation „Halte Abstand ..von dem Wasser.“, diese wäre selektionsbegünstigt, da die Angehörigen mit einer solchen Information nicht ertrinken (Abbildung 2.2). Bei unserer Inselpopulation wäre diese Erbinformation aber hinderlich, sie schränkte die Nutzbarkeit der Insel erheblich ein. Bricht nun bei einem Individuum z. B. ein Chromosom an der Stelle, an der die Erbinformation „Halte Abstand ...“ steht, dann gibt das Individuum an die Hälfte seiner Nachkommen drei statt zwei Chromosomen weiter. Die zweite Hälfte der Nachkommen erhält – wie erwartbar – unverändert zwei intakte Chromosomen (Abbildung 2.2).
Diesen Vorgang können wir uns sowohl bei Individuen der Festlandspopulation als auch bei Individuen der Inselpopulation vorstellen. In beiden Populationen hat der Bruch keine Konsequenzen. Die Reifeteilung der Nachkommen kann genauso stattfinden, da sich an das ungebrochene Pendant die beiden Teilstücke entsprechend anlagern können. In beiden Populationen gibt es also Individuen mit vier Chromosomen, die von beiden Elternteilen jeweils zwei Chromosomen geerbt haben, und Individuen mit fünf Chromosomen, die von einem Elternteil zwei und von dem anderen drei Chromosomen mitbekommen haben. An dem genetischen Programm der jeweils betroffenen Individuen hat diese unterschiedliche Ausstattung nichts geändert, zwar ist – wie oben ausgeführt – durch den Bruch die Erbinformation „Halte Abstand....“ verloren gegangen, doch hat dies zu keiner Änderung geführt, da diese Information auf dem vom anderen Elternteil ererbtem intakten Chromosom erhalten geblieben ist und dementsprechend weiterhin das Individuum steuert.



Abbildung 2.3: Skizze des Erbganges bei Verpaarung von zwei Individuen der Ausgangsart „A“, die beide denselben Gendefekt haben. Es entsteht eine neue Unterart „B “, die in der Skizze magenta gefärbt ist.


Treffen aber nun in beiden Populationen zwei Tiere aufeinander, die den gleichen Defekt unsichtbar in sich tragen, dann geben sie jeweils an die Hälfte ihrer Nachkommen den Defekt weiter. Im Mittel kommt dabei heraus, dass ein Viertel der Nachkommen überhaupt keinen Defekt mehr hat, die Hälfte ihn unsichtbar mit sich trägt und ein Viertel die Erbinformation „Halte Abstand vom Wasser“ verloren hat (Abbildung 2.3). Über die Zeit wird das Fehlen dieser Information für die Festlandspopulation hinderlich sein, da ein Teil der Nachkommen der Individuen mit diesem Defekt ertrinken, was deren Fitness reduziert. Für die Inselpopulation mag das gleiche gelten, einige ertrinken, doch wird dieser Verlust durch reichliche Nahrung am Inselufer ausgeglichen. Dank der besseren Ernährung überleben mehr Nachkommen als bei den Individuen, die konsequent Abstand zum Wasser halten. Die Defektträger sind also fitter. Zwangsläufig setzen sie sich über die Zeit durch. Unsere ursprüngliche Art wäre also in zwei Unterarten aufgespalten. Nennen wir die Festlandspopulation „A“ und die Inselpopulation „B“. In unserem Beispiel unterscheiden sie sich nur in einem einzigen Merkmal, in der „echten Natur“ wären per Zufall sicherlich weitere Merkmale betroffen. Wir haben schon ausgeführt, dass nicht alle Arten mit dem Inselleben zurechtkommen, insofern wollen wir hypothetisch annehmen, auf der Insel stürben die Konkurrenten unserer Art, die auf den Bäumen lebten, aus. Wir haben also bei unserer Inselpopulation eine Unterart mit sechs Chromosomen konstruiert.18
 



Abbildung 2.4: Skizze des Erbganges bei Verpaarung von zwei Individuen der Unterart „B“, von denen eines einen Gendefekt hat.


Gehen wir innerhalb der Unterart „B“ nun wieder von einer zufälligen Mutante aus, bei einem Individuum klebe eines der kleinen Chromosomenstücke an dem zweiten (in unserer Skizze dem spindelförmigen) Chromosom fest. Die Hälfte der Nachkommen dieses Individuums hat nun fünf Chromosomen (statt sechs). (Abbildung 2.4) Durch das Verkleben sei durch Zufall die Information „Kletter auf Bäume“ entstanden, die die Hälfte der Nachkommen unseres Individuums in sich tragen. Auch hier gibt es bei der Reduktionsteilung keine Probleme, da sich das bei der beschriebenen Unterartenbildung entstandene kleine Chromosom sich weiterhin anlagern kann. Die neu entstandene Mutante wird sich also in unserer Inselpopulation weiter vermehren. Diese Verhältnisse sind wieder in einer Skizze dargestellt (Abbildung 2.4).



Abbildung 2.5: Skizze des Erbganges bei Verpaarung von zwei Individuen der Unterart „B“, die beide denselben Gendefekt haben. Es entsteht eine neue Unterart „C“, die in der Skizze rot gefärbt ist.


Auch hier wird der Fall eintreten, dass zwei Nachkommen, die die Information „Kletter auf Bäume“ versteckt mit sich tragen, sich miteinander paaren, das Ergebnis können wir bereits erwarten, ein Viertel der Nachkommen tragen reinerbig diese Informationen, haben also nur noch vier Chromosomen. Diese Variante wäre gleichzeitig eine neue Unterart, die wir als „C“ bezeichnen wollen (Abbildung 2.5). Wir haben keine Probleme, davon ausgehen zu können, dass die Variante „C“ besonders erfolgreich sein wird, da sie zusätzlich über weitere Nahrungsoptionen verfügt.
Auf unserer Insel leben nun zwei Unterarten, die sich nicht in einer Konkurrenzsituation befinden, Individuen der Unterart „B“ nutzen den Boden, Individuen der Unterart „C“ die Bäume, sie leben in unterschiedliche ökologischen Nischen. Für diesen Prozess der Unterartenbildung, der auch tatsächlich, wie wir noch zeigen werden, für viele Verteter der Primates belegbar ist, benötigt die Evolution Zeit. Für die auf wenigen Seiten beschriebenen Prozesse müssen Zeiträume von 100 000 Jahren bis 1 Million Jahre veranschlagt werden.19 Ein Forscher in seinem Forscherleben wird also nicht die Chance haben, den gesamten Prozess zu begleiten. Durch die menschlich bedingte Fragmentierung der Regenwälder ist zu vermuten, dass diese Unterartenbildungen und Artenbildungen beschleunigt werden, da die Individuen der verschiedenen Fragmente untereinander isoliert sind. Gleichzeitig haben wir nämlich ein Beispiel für das komplizierte Entstehen von Arten erhalten. Individuen von Population „A“ und Population „B“ können miteinander erfolgreich züchten, sind also Unterarten einer gemeinsamen Urart „A“, Nämliches gilt für Population „B“ und „C“, beide sind Unterarten ihrer gemeinsamen Urart „B“. Doch treffen Mitglieder der Populationen „A“ und „C“ aufeinander und paaren sich, dann können ihre Nachkommen keine Reduktionsteilung mehr bestehen, sie sterben ohne Nachkommen aus. Population „A“ und Population „C“ sind also auf Artenniveau zu trennen.



Abbildung 2.6: Skizze des Erbganges bei Verpaarung von einem Individuum der Unterart „A“ mit einem Individuum der Unterart „C“. Es entstehen lebensfähige Individuen, die selber nicht mehr zur Reduktionsteilung in der Lage sind.


Das merken wir freilich nicht, da Unterart „A“ auf der Insel nicht vorkommt. In der Erdgeschichte folgen auf Warmzeiten jedoch Eiszeiten, die Wasserbindung an den Polkappen nimmt zu, der Wasserspiegel sinkt, unsere Insel ist wieder mit dem Festland verbunden. Nun würde diese Artenbildung offensichtlich werden.20
Solche Wege der Unterarten- und Artenbildung sind gerade bei den Primates mehrfach aufzeigbar. Wie bereits besprochen (Kapitel 1) können wir bei den Primaten zwischen Halbaffen und Echten Affen unterscheiden. Meine ersten Primaten (vgl. Kapitel 3 und Kapitel 4) waren Halbaffen. Vernachlässigen wir hier die Koboldmakis, auf die ich schon hingewiesen habe (Kapitel 1), können wir bei den Halbaffen zwischen den Festlandshalbaffen, den Lorisiformes , und den Halbaffen Madagaskars, den Lemuriformes, unterscheiden. In der Evolutionsgeschichte der Primaten gab es auf Madagaskar keine Echten Affen, so dass sich hier die Halbaffen ohne Konkurrenzdruck durch Echte Affen entwickeln konnten. Unterschiedlichste Arten eroberten die unterschiedlichsten ökologischen Nischen und nutzten die unterschiedlichsten Tageszeiten. So leben auf Madagaskar tagaktive neben nachtaktiven Formen. Sowohl bei den tag- als auch bei den nachtaktiven Formen werden regelmäßig neue Arten beschrieben, dabei wird in der Regel - dem angegebenen Beispiel entsprechend - ehemaligen Unterarten nun Artenstatus zuerkannt.
Die Festlandshalbaffen sind alle nachtaktiv (nocturnal). Offensichtlich konnten auf dem Festland unter dem Konkurrenzdruck der Echten Affen entweder keine tagaktiven Formen überleben21 oder sich keine tagaktiven Formen entwickeln. Innerhalb der Lorisiformes22 dürfen wir wiederum zwischen der Familie Lorisidae und der Familie Galagidae unterscheiden. Bei den Lorisidae gibt es asiatische (Loris und Nycticebus) und afrikanische (Perodicticus und Arctocebus) Gattungen, bei den Galagidae nur afrikanische (Gattung Galago).
Die Lorisidae werden fälschlicherweise auch als Faultiere unter den Primaten bezeichnet. Diese Bezeichnung ist aber nach meiner Einschätzung falsch. Nach Beobachtungen an Vertretern aller erwähnten Gattungen möchte ich betonen, dass grundsätzlich alle lorisiformen Primates sich gleich schnell bewegen können. Die Galagos haben zusätzlich die Fähigkeit erworben, gut und schnell zu springen23, die Loris zusätzlich die Fähigkeit, sich extrem langsam zu bewegen und in der Bewegung zu verharren. Auf den ersten Blick scheinen diese unterschiedlichen Spezialisierungen nicht miteinander vereinbar zu sein. Fragen wir aber nach den Selektionsmechanismen, sind wir uns schnell einig: Es ist das Wichtigste zu überleben und genügend Nahrung erbeuten zu können. Hier bezeugen die heute lebenden Lorisiformes zwei unterschiedliche erfolgreiche Strategien. Die galagoartigen Tiere sind schnelle Springer, können sowohl schnell entkommen als auch schnell Beute fangen. Die loriartigen stellen bei Gefahr die Bewegungen ein (und werden übersehbar); treffen sie auf lebende Beute, können sie sich so langsam annähern und nach der Beute greifen, dass sie von dieser nicht geortet werden. Im letzten Zugriff sind die Loriartigen dann aber genauso schnell wie die Galagos. Zu den Galagos gehörten auch meine ersten Primaten. Für das Anfertigen einer Diplomarbeit erhielt ich Riesengalagos. Riesengalagos sind etwa kaninchengroß, ihren Namen verdanken sie dem Umstand, dass sie im Vergleich zu den kleineren Galagos, den typischen Buschbabies, wahre Riesen sind.

1Glaubensbekenntnis

2Indirekt bekennt schon der seinen Glauben, der von Mitgeschöpfen spricht. Da nichts geschaffen wurde, gibt es auch keine Mitgeschöpfe, man müsste von Mitlebewesen oder Mittieren reden. Viele Theologen haben jedoch ein allzu großes zwanghaftes Bedürfnis, einen Gott für das Leben und Sterben verantwortlich zu machen und diesem dann auch noch zu danken. Ein fast skurilles Beispiel für christlichen Aberglauben hörte ich einmal in einer Rundfunksendung. Der Radiotheologe forderte seine Zuhörer auf, statt über die Autobahn einmal über die Landstraße zu fahren, so könne man die verschiedenen Landschaften besser genießen, die Gott sich ausgedacht habe.

3Wir gehen davon aus, dass die Eltern versterben.

4Das Schachbrett hat 64 Felder, angeblich habe der ägyptische Erfinder des Schachspielens einen Wunsch freigehabt. Er soll sich gewünscht haben, ein Korn Getreide auf das erste Feld, das Doppelte (zwei Körner) auf das zweite Feld, das Doppelte des zweiten Feldes (vier Körner) auf das dritte usw. Die reich gefüllten Kornkammern Ägyptens reichten freilich nicht aus, die Belohnung zu zahlen.

5Der Begriff Predation bzw. auch Predator geht auf das aus dem Lateinischen (praedator) abgeleitete englische Wort predatory = räuberisch zurück, wir kennen vergleichbare Begriffe in unserer Sprache, z. B. „Raubvogel“ oder „Raubtier“, wobei natürlich weder der Vogel noch das Tier tatsächlich rauben.

6Die geringe, aber für uns dennoch verhängnisvolle Nachkommenschaft konnten sich diese Schaben wohl wegen ihrer versteckten Lebensweise leisten, die systematisch nahe verwandte in wärmeren Gebieten freilebende Gottesanbeterin Mantis religiosa benötigt im Mittel mehr als 1000 Nachkommen pro Weibchen, um uns auch heute noch mit ihrer Anwesenheit zu erfreuen.

7Wegen des hohen individuellen Alters der Meeresschildkröten - sie werden älter als wir Menschen - werden wir in unserer Generation ihr schleichendes Aussterben möglicherweise nicht bemerken. Einige Meeresschildkröten müssen nicht nur sehr alt werden und regelmäßig ihre etwa hundert Eier umfassenden Gelege liefern, um sicher zu stellen, dass im Mittel pro Schildkrötenweibchen zwei Junge überleben. Vielmehr müssen und mussten sie dies auch noch zur gleichen Zeit und am gleichen Ort gemeinsam mit tausenden Artgenossen leisten. Nur so erreichen sie, dass eine hinreichende Zahl von Nachkommen selber fortpflanzungsfähig wird. Auf die Schildkrötenbabies warten nämlich schon alle möglichen Beutejäger. Nur bei einer genügend großen Zahl von gleichzeitig aus dem Sandstrand in das Meer drängenden Jungen, haben einige die Chance, zum auch nur relativ sicheren Meer zu gelangen. Über mehr als 100 Millionen Jahre lang haben nur die Schildkrötenweibchen, die genügend viele Eier legten, durch ihre Nachkommen bis heute überlebt. Erst unsere Enkel und Urenkel werden wissen, ob es heute hinreichend große Zahlen von Meeresschildkröten gibt.

8Zu dem Namen „Spanner“ sind die zu dieser Gruppe gehörenden Schmetterlinge wegen der Fortbewegung ihrer Raupen gekommen.

9vgl. auch [250]

10Es muss sich nicht immer um Lernvorgänge handeln, möglicherweise folgt der Beutejäger vielleicht nur einem festen - via Selektion - entstandenem genetischen Programm.

11Den schnellen Zugriff zum Internet gab es damals noch nicht.

12Zum Nachweis muss man den Baum jedoch fällen. Das Besteigen von morschen Bäumen ist kaum ratsam.

13Hier verdanken wir wichtige Einsichten wiederum Willi Hennig[74]: „A characteristic of any science ist the ‚endless task‘ and the knowledge that its final goal will probably never be reached. This is also true of phylogenetic systematics.“ Seite 28[74].„Thus by definition phylogenetic relationships exist only between species; they arise through the process of species cleavage. The key position of the species are, in the sense of the class theory, the elements of the phylogenetic system.“Seite 29 [74].

14Im Gegensatz zu Darwin müssen wir uns nicht mit der Feststellung, dass Variabilitäten auftreten, zufrieden geben.

15Die Einschränkung „in der Regel“ ist notwendig, da manchmal Männchen und Weibchen sich im Aussehen erheblich unterscheiden, so dass anfänglich beide Geschlechter als verschiedene Arten beschrieben werden.

16Neben den Erbinformationen des Zellkerns gibt es noch solche in der Eizelle, insofern sind wir auch näher mit unserer Mutter verwandt als mit unserem Vater, von dem wir nur die Informationen des Zellkerns erben.

17Bei Pflanzen können mehrfache Chromosomensätze vorhanden sein

18In einem Schulbuch würde aus didaktischen Gründen gezeigt, dass bei sechzehn Nachkommen das Verhältnis 4 : 8 : 4 wäre.

19Evolution hat also Zeit. Dies erklärt auch, warum bei unseren Haustieren und deren relativ kurzer Domestikationsgeschichte noch keine neuen Arten entstanden sind. Dabei kann natürlich nicht ausgeschlossen werden, dass die eine oder andere Rasse eventuell unbemerkt bereits den Übergang zu einer neuen Art beschritten hat.

20Als Betrachter der etwa 70 Millionen Jahre andauernden Primatenevolution fragt man sich schon, warum sich die Politik gedanklich um die Erwärmung der Atmosphäre sorgt. Nach meinem Wissen steuern wir tatsächlich – unbeeinflussbar von uns Menschen – auf die nächste Eiszeit zu. Dieses Zusteuern dauert freilich. Es ist in einem Menschenleben fast nicht bemerkbar. Vielleicht aber wird der Beginn dieses Prozesses auch durch die menschlichen Emissionen maskiert.

21Bei Fossilfunden ist es nicht möglich, Aussagen über die Aktivitätszeiten zu leisten.

22Namensgebend ist hier der Schlanklori Loris tardigradus.

23Zum Springen sind sie besonders durch die Ausbildung eines „Sprungbeins“ befähigt, zwei Mittelfußknochen (Naviculare und Calcaneus) sind auffällig verlängert.

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